Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
gesetzt.
Magdalena rannte ziellos durch die Gassen. In das Haus des Venezianers wollte sie nicht zurück, und im ›Walfisch‹ wartete vielleicht der Fremde mit der Kapuze auf sie. Es war gut möglich, dass er bereits herausgefunden hatte, wo sie wohnte. Wo sollte sie hingehen?
In ihrer Angst lief sie immer weiter, bis plötzlich die Häuser zu ihrer Linken und Rechten aufhörten und sich der weite, mit Sternen übersäte Nachthimmel über ihr auftat. Ohne es zu beabsichtigen, war Magdalena am Domplatz angelangt. Wie mahnende Finger eines zornigenGottes ragten die beiden Kirchtürme in die Höhe. Darunter befand sich ein architektonisches Gewirr von Erkern, Türmchen, Balustraden, Säulen und Wasserspeiern. Auf der breiten Treppe, die zur drei Schritt hohen Kirchentür führte, lungerten einige Gestalten, die die ausgetretenen Stufen offenbar als Bettstatt benutzten. Ansonsten war der Platz leer.
Mit einem Mal fühlte sich die Henkerstochter furchtbar müde. Die Füße taten ihr weh vom Laufen, das Kleid hing in Fetzen an ihr, das rote Samtjäckchen hatte sie bei der Flucht von sich geworfen. Sie sah aus wie eine billige Dirne, die ein paar Stunden harter Arbeit hinter sich hatte und vor ihrem letzten Freier davongelaufen war.
Ohne weiter nachzudenken, ging sie auf die Stufen des Domes zu und suchte sich einen Schlafplatz in der Nähe der Eingangstür. Mehrmals musste sie über schnarchende, zusammengekrümmte Gestalten hinwegsteigen, die sich zum Schutz vor der nächtlichen Kälte eng aneinandergekuschelt hatten. Einige der Fremden waren noch wach und musterten sie misstrauisch. Es waren Bettler, gekleidet in Lumpen, viele von ihnen mit schmutzigen Verbänden an Füßen und Armen, andere mit Krücken und schlecht verheilten Beinstümpfen. Als Magdalena an ihnen vorüberging, krabbelten sie wie große Käfer auf sie zu.
»Na, Hübsche«, säuselte einer von ihnen, dem die Pocken das Gesicht zerfressen hatten und dem außerdem noch das rechte Bein fehlte. »Magst einem alten Landsknecht nicht einen Gefallen tun und ihn ein bisschen wärmen? Geb dir auch was von meinem Lohn ab.«
Er rasselte mit einem kleinen Blechteller, auf dem ein paar rostige Münzen lagen.
»Lass nur, Narbenpeter«, meldete sich eine alte Frau neben ihm, gehüllt in mehrere Lagen dreckstarrender Tücher.Ein zahnloser Mund grinste Magdalena an. »Die Dame ist doch viel zu fein für dich. Nicht wahr, Liebchen? Du gibst dich nur mit den hübschen Gockeln von der Stadtgarde ab.« Sie gackerte wie ein Huhn und schob ihr Becken lüstern nach vorne. »Hast nicht gehört, dass es für hübsche Dirnen wie dich zurzeit gefährlich ist in der Stadt? Da draußen geht der Schnitter um und zieht euch auf seinen Wagen.«
Im Stillen verfluchte sich Magdalena für ihre Unbefangenheit, sich am Dom einen Schlafplatz zu suchen. Doch nun war es zu spät, wegzulaufen. Wenn sie auch nur einen Hauch von Angst zeigte, würden diese Kreaturen vermutlich wie Krähen über sie herfallen. Also ging sie schweigend weiter.
»Bleib schön bei uns, dann kann dir auch nichts passieren!«, krähte der alte Söldner. »Soll dein Schaden nicht sein. Wenn ich noch einen Kreuzer draufleg, dürfen sich vielleicht auch zwei an ihr wärmen. Was meinst du, Karl?«
Ein junger Kerl mit blöden Augen, dem der Speichel aus dem Mund troff, kicherte wie ein kleines Kind.
»M… m… m… mag schon sein, P… P… Peter.« Auf wunden Knien rutschte er Magdalena entgegen.
»Noch einen Schritt, Wasserkopf«, zischte die Henkerstochter, »und ich schlitz dir das Gesicht auf, dass du aussiehst wie dein pockennarbiger Freund. Schleicht’s euch!«
»Von wegen, Hübschlerin«, sagte der Kriegsveteran. »Jetzt heißt’s Geld verdienen.« Er griff nach ihrem Kleid und versuchte, Magdalena zu sich hinunterzuziehen. Ein Fehler, wie er sofort einsehen musste. Die Henkerstochter trat ihm gegen den Beinstumpf, so dass er sich wimmernd auf den Stufen wälzte.
»Sie hat unseren Pockenpeter auf dem Gewissen!«, kreischtedie Alte. »Sie hat ihm ein Messer in den Leib gestoßen, das Flittchen!«
»Unsinn!«, rief Magdalena. »Ich hab nur …« Ein Messingteller traf sie im Gesicht und ließ sie zurücktaumeln. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie drei weitere Bettler von den oberen Stufen zu ihr hinuntereilten. Sie schwangen ihre Krücken wie Hellebarden und schienen nicht im Geringsten lahm, amputiert oder hinkend zu sein. Magdalena sprang über den immer noch stöhnenden Pockenpeter hinweg und
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