Die Henkerstochter
Nachdenken und Luft zum Atmen. Eigentlich hätte er für seinen Vater Tinkturen mischen sollen, aber das konnte auch bis morgen warten. Überhaupt ging Simon seinem Vater zurzeit lieber aus dem Weg. Selbst am Totenbett des armen Kratz-Jungen hatten sie sich angeschwiegen. Der Alte hatte ihm noch immer nicht verziehen, dass er einfach das Haus verlassen hatte, um den Scharfrichter zu besuchen. Irgendwann, das wusste Simon, würde sein Zorn wieder verraucht sein. Dochbis dahin war es besser, ihm nicht zu oft zu begegnen. Simon seufzte. Sein Vater stammte aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der das Sezieren von Leichen eine Blasphemie war und die Behandlung von Kranken ausschließlich aus Purgieren, Schröpfen und dem Drehen stinkender Pillen bestand. Ein Satz ging ihm durch den Kopf, den sein Vater einmal nach der Beerdigung eines Pesttoten gesagt hatte: Gott bestimmt, wann wir sterben. Wir sollten ihm nicht ins Handwerk pfuschen.
Simon wollte es anders machen. Er wollte dem Herrgott ins Handwerk pfuschen.
Unten am Lechtor war er dann Magdalena begegnet, die von ihrer Mutter zum Bärlauchsammeln in die Auen geschickt worden war. Sie hatte ihm wieder dieses Lächeln zugeworfen, und er war einfach mit ihr gegangen. An der Lechbrücke hatten ein paar Waschfrauen gestanden, er hatte ihre Blicke förmlich im Rücken gespürt. Doch das war ihm egal.
Den ganzen Nachmittag streiften sie nun schon durch die Auenwälder des Lechs. Gerade jetzt wieder strich ihre Hand über seine. Simon durchfuhr es heiß, seine Kopfhaut fing an zu kribbeln. Was hatte dieses Mädchen nur, das ihn so durcheinanderbrachte? Vielleicht war es der Reiz des Verbotenen? Er wusste, Magdalena und er konnten nie ein Paar werden. Nicht in Schongau, nicht in diesem stickigen Nest, wo schon ein kleiner Verdacht ausreichte, um eine Frau auf den Scheiterhaufen zu bringen. Simon runzelte die Stirn. Dunkle Gedanken zogen wie Gewitterwolken auf.
»Was hast du?« Magdalena blieb stehen und sah ihn an. Sie spürte, dass ihn etwas beunruhigt hatte.
»Es ist ... nichts.«
»Sag’s mir, oder wir kehren auf der Stelle um, und ich werd dich nie wieder anschauen.«
Simon musste lächeln. »Eine schlimme Drohung. Auch wenn ich glaub, dass du sie nicht wahrmachst. «
»Du wirst schon sehen. Also, was ist?«
»Es ist ... wegen den Jungen.«
Magdalena seufzte. »Hab ich’s doch geahnt.« Sie schob ihn neben dem Trampelpfad auf einen Eichenstamm, den ein Frühlingssturm umgeworfen hatte, und setzte sich neben ihn. Ihr Blick ging in die Ferne. Erst nach einer Weile fing sie wieder zu sprechen an.
»Eine schlimme Sach. Auch mir gehen die Jungen nicht aus dem Kopf, der Peter und der Anton. Ich hab sie oft auf dem Markt gesehen, besonders den Anton. Der hat ja keinen gehabt. Als Mündel, da bist du fast genauso viel wert wie als Henkerskind. Gar nichts.«
Magdalena presste ihre vollen Lippen zusammen, bis sie nur noch ein kleiner roter Strich waren. Simon legte ihr die Hand auf die Schulter, wieder sagten sie eine Zeitlang nichts.
»Hast du gewusst, dass bei der Stechlin immer die ganzen Mündel versammelt waren?«, fragte er schließlich. Magdalena schüttelte den Kopf.
»Irgendetwas ist da passiert.« Simon ließ den Blick über die Bäume schweifen. Weit entfernt ragten die Stadtmauern von Schongau auf.
Nach einer Weile sprach er weiter: »Die Sophie sagt, dass sie auch am Abend vor dem Mord bei der Stechlin waren. Dann seien alle heimgegangen, nur der Peter nicht, der ist zum Fluss, um noch jemanden zu treffen. Wer kann das gewesen sein? Sein Mörder? Oder lügt die Sophie?«
»Was ist mit dem Anton Kratz? War der auch bei der Stechlin? « Magdalena lehnte jetzt an seiner Schulter, sie legte ihre Hand sanft auf seinen Oberschenkel. Doch Simon war mit den Gedanken woanders.
»Doch, der Anton auch«, sagte er nachdenklich. »Und beide hatten sie dieses merkwürdige Zeichen auf der Schulter, mit Hollersaft in die Haut geritzt. Beim Anton war’s schon verwaschener, als hätte irgendjemand versucht, es wegzumachen.«
»Er selbst?« Magdalenas Kopf kuschelte sich an seinen.
Simon blickte weiter starr in die Ferne. »Außerdem hat dein Vater beim Peter Schwefel in der Tasche gefunden«, murmelte er. »Und bei der Hebamme fehlt eine Alraune.«
Magdalena richtete sich überrascht auf. Als Tochter des Henkers kannte sie sich mit magischen Ingredienzien gut aus.
»Eine Alraune? Bist du sicher?«, fragte sie beunruhigt. Simon sprang vom Baumstamm
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