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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
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sich unter der Ofenbank und weinte. Sie war ganz allein. Wenn ihr die Nachbarin gelegentlich etwas Süßes zusteckte, nahmen es ihr die anderen wieder weg. Alles, was ihr blieb, war die Holzpuppe, die ihr Vater einmal für sie geschnitzt hatte, in einer anderen Zeit. Sie legte sie nie weg, nicht am Tag und nicht in der Nacht, sie war die letzte Erinnerung an ihre Eltern.
    Einen Monat später war ein junger, freundlicher Mann gekommen. Er hatte ihr über den Kopf gestreichelt und ihr gesagt, dass sie von nun an Clara Schreevogl heißen würde. Er führte sie in ein großes, zweistöckiges Haus, direkt am Marktplatz. Es hatte eine breite Treppe und viele Zimmer mit schweren Vorhängen aus Brokat. Die Schreevogls hatten bereits fünf Kinder, und es hieß, Maria Schreevogl könne keine mehr bekommen. Sie nahmen sie auf wie ihr eigenes Kind. Und wenn die Geschwister anfangs hinter ihrem Rücken tuschelten und ihr böse Worte nachriefen, dann kam ihr Stiefvater und versohlte ihnen den Hintern mit der Haselnussgerte, so dass sie drei Tage nicht mehr sitzen konnten. Clara aß die gleichen feinen Speisen, sie trug die gleichen linnenen Kleider, aber trotzdem merkte sie, dass sie anders war. Ein Mündel, das man durchfütterte. An den Familienfesten, zu Ostern oder am Abend des heiligen Nikolaus spürte sie eine unsichtbare Mauer zwischen sich und den Schreevogls. Sie sah die liebkosenden Blicke und Umarmungen der anderen, unausgesprochene Worte, Gesten und Berührungen, und dann lief sie in ihr Zimmer und weinte wieder. Lautlos, so dass es keiner merkte.
    Von draußen vor dem Fenster waren jetzt Geschrei undGejohle zu hören. Clara Schreevogl hielt es im Bett nicht mehr aus. Sie hievte sich empor, schlug die schwere Daunendecke zur Seite und ließ sich auf den kalten Holzboden gleiten. Sofort erfasste sie ein Schwindelgefühl. Sie hatte Fieber, i hre Beine fühlten sich an wie nasser Lehm . Trotzdem schleppte sie sich die paar Schritte hin zum Fenster, öffnete es und blickte hinaus.
    Unten am Lech brannte der Stadl! Feuerzungen leckten zum Himmel empor, ganz Schongau war an der Floßlände versammelt. Auch Claras Eltern, ihre Geschwister und die Amme waren unten, um das Schauspiel zu verfolgen. Nur sie, das kranke Mündel, hatte man oben gelassen. Bei ihrer wilden Flucht vor drei Tagen war sie in den Lech gefallen. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Strömung sie wegtrug, hatte sie sich an einem Büschel Schilf festhalten können. Sie war die Uferböschung hinaufgeklettert und durch Morast und Dickicht nach Hause gerannt. Dabei blickte sie sich immer wieder nach den Männern um, aber sie waren verschwunden. Auch die anderen Kinder waren fort. Erst an der Eiche in der Nähe des Kuehtors hatte sie den Anton und die Sophie wiedergetroffen. Der Anton hatte sie mit schreckensweiten Augen angestarrt und immer wieder gerufen, er habe den Teufel gesehen. Erst als die Sophie ihm eine Ohrfeige gab, hörte er auf. Und jetzt war er tot, und Clara wusste warum. Selbst mit ihren zehn Jahren konnte sie sich ausmalen, was geschehen war. Clara hatte Angst.
    In diesem Augenblick hörte sie unten das Quietschen der Haustür. Ihre Stiefeltern mussten zurückgekommen sein. Im ersten Moment wollte sie nach ihnen rufen, doch etwas hielt sie zurück. Wenn die Schreevogls nach Hause kamen, war das immer mit Lärm verbunden, Türenschlagen, das Lachen der Geschwister, Treppengepolter. Selbst wenn die Amme vom Markt kam, hörte man wenigstensSchlüsselrasseln und das Abstellen der Körbe. Aber jetzt war es totenstill. Als hätte jemand die Tür vorsichtig öffnen wollen, und nur das Quietschen habe ihn verraten. Clara hörte ein Knarzen auf der Treppe. Instinktiv eilte sie vom Fenster zurück zum Bett und kroch darunter. Staub stieg ihr in die Nase, sie musste ein Niesen unterdrücken. Von ihrem Versteck aus sah sie, wie sich die Tür zu ihrem Zimmer langsam öffnete. Zwei schlammbespritzte Lehmstiefel verharrten auf der Schwelle. Clara hielt den Atem an. Es waren eindeutig nicht die Schuhe ihres Stiefvaters, der sehr auf ein sauberes Äußeres achtete. Sie wusste nicht, wem diese Stiefel gehörten, aber sie erkannte den Schlamm darauf. Claras Schuhe hatten vor drei Tagen auch so ausgesehen. Es war der Schlamm aus dem Morast, durch den sie geflohen war.
    Die Männer waren zurückgekehrt, oder zumindest einer von ihnen.
    Staub kroch ihr in die Nase, sie fühlte ein Kitzeln an ihrer rechten Hand. Als Clara kurz hinblickte, sah sie eine Spinne über ihre

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