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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
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dann sprach er: »Martin Hueber, du wirst unser Gast sein, bis dieser Vorfall geklärt ist. Solange ist es dir verboten, die Stadt zu verlassen.«
    Huebers Gesicht lief rot an. »Das könnt Ihr nicht machen. Ich unterstehe der Augsburger Gerichtsbarkeit!«
    »Das kann ich wohl.« Lechners Stimme war leise und eindringlich. »Du hast bei uns geprügelt, dafür gibt’s Zeugen. Also kannst du auch bei uns einsitzen und Wasser saufen.«
    Jubeln und hämisches Gelächter kam von Seiten der Schongauer Flößer. Der Schreiber wandte sich ihnen zu.
    »Es gibt keinen Grund zum Fröhlichsein, keinen einzigen! Georg Riegg, du wanderst als Anführer dieser Meute in den Kerker, zusammen mit dem faulen Brückenwächter. Und dann werden wir bald herausfinden, wer hier zuletzt lacht.«
    Georg Riegg, der Brückenwächter und der Augsburger Martin Hueber wurden unter lauten Protesten abgeführt.Auf der Brücke drehte sich der Rottfuhrmann noch einmal zu den Schongauern um.
    »Das werdet ihr noch büßen!«, rief er. »Schon morgen wissen die Fugger, was hier passiert ist. Und dann Gnade euch Gott. Jeden einzelnen Ballen werdet ihr uns ersetzen! Jeden einzelnen!«
    Lechner seufzte. Dann wandte er sich an den Bürgermeister, der kreidebleich neben ihm stand.
    »Auf der Stadt liegt ein Fluch. Und das alles, seit diese Hexe den Jungen umgebracht hat«, sagte der Schreiber. Bürgermeister Karl Semer sah ihn fragend an. »Meint Ihr, dass die Stechlin auch den Stadl ...? «
    Lechner zuckte mit den Schultern. Schließlich lächelte er. »Möglich ist’s. Sorgen wir dafür, dass sie gesteht. Dann haben wir wieder reinen Tisch. Und alle sind’s zufrieden.« Erleichtert nickte der Bürgermeister. Dann machten sich die beiden Ratsherren auf den Weg zurück in die Stadt.
     
    Das Mädchen drückte eine Holzpuppe an seine schmale Brust, aus der bei jedem Atemzug ein Rasseln zu hören war. Das Gesicht war bleich und eingefallen, tiefe Ringe hatten sich um die Augen gegraben. Wieder musste sie husten, hart und schmerzhaft, der Hals tat ihr weh. Von fern hörte sie die anderen unten am Lech, irgendetwas war geschehen. Mühsam richtete sie sich auf und versuchte vom Bett aus einen Blick durchs Fenster zu erhaschen. Doch sie sah nur den Himmel, Wolken und dazwischen eine Rauchsäule. Ihr Vater hatte gesagt, alles sei in Ordnung, sie solle sich nicht aufregen und schön im Bett bleiben. Später würde der Medicus kommen und ihr helfen, wenn die kalten Umschläge nichts mehr nützten. Das Mädchen lächelte. Hoffentlich kam der junge Arzt und nicht der alte. Sie mochte den jungen, er hatte ihr auf demMarkt einmal einen Apfel zugesteckt und gefragt, wie es ihr gehe. Es fragten nicht viele nach ihrem Befinden, eigentlich keiner.
    Clara hatte mit fünf Jahren ihre Eltern verloren. Zuerst die Mutter, die nach der Geburt eines kleinen Brüderchens nicht mehr aufgewacht war. Clara konnte sich noch an das Lachen der Mutter erinnern, an große freundliche Augen, und daran, dass sie ihr öfter vor dem Schlafengehen etwas vorgesungen hatte. Als sie hinter dem Holzsarg hergingen, hatte sie gedacht, die Mutter schlafe nur, gleich würde sie wieder aufwachen und nach Hause kommen. Der Vater hatte ihre Hand gehalten. Als der Leichenzug an der St. Sebastianskirche angekommen war und sie den Sarg auf dem neuen Friedhof in der Erde versenkten, hatte er sie so fest gedrückt, dass sie schreien musste. Die Frauen hatten gedacht, sie weine wegen ihrer Mutter, und hatten ihr über den Kopf gestreichelt.
    Danach ging es dem Vater immer schlechter. Es fing mit dem gleichen Husten an, den sie jetzt hatte, hart und trocken. Bald spuckte er Blut, und die Nachbarn sahen sie mitleidig an und schüttelten den Kopf. Oft saß sie abends am Bett des Vaters und sang die Lieder, die die Mutter immer gesungen hatte. Er hatte doch nur noch sie, und sie hatte nur noch ihn. Die Geschwister waren weggezogen, weil es in Schongau schon genug Korbmacher gab, oder sie waren tot, so wie das kleine Brüderchen, das ohne die Brust der Mutter drei Tage geschrien hatte und plötzlich ganz still war.
    Der Vater starb an einem kalten, feuchten Herbsttag, und sie trugen ihn zum gleichen Friedhof wie seine Frau. Das Grab der Mutter war noch ganz frisch, das Schaufeln fiel leicht.
    Die nächsten Wochen verbrachte Clara bei der Nachbarin,zusammen mit einem halben Dutzend anderer Kinder. Am Tisch schlug man sich um die einzige Schüssel mit Gerstenbrei, aber sie hatte ohnehin keinen Hunger. Sie verkroch

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