Die Henkerstochter
blieb. Jetzt nippte er schweigend am Bier, während Jakob Kuisl neben ihm an seiner Pfeife kaute. Das Nachdenken fiel ihm nicht leichter dadurch, dass Magdalena immer wieder in die Stube kam, um Wasser zu holen oder den Hühnern unter der Tischbank Körner zu geben. Einmal kniete sie sich dabei direkt vor Simon nieder. Wie zufällig streifte sie dabei mit ihrer Hand über seine Schenkel, und ein leichter Schauer lief durch seinen Körper.
Jakob Kuisl hatte ihm erzählt, dass seine Tochter es gewesen war, die die Alraune im Wald gefunden hatte. Seitdem war Simons Zuneigung zu ihr fast noch gewachsen. Dieses Mädchen war nicht nur wunderschön, sie war auch klug. Es war ein Jammer, dass Frauen der Zugang zur Universität verwehrt war. Simon war sich sicher, dass Magdalena es im Studium mit sämtlichen gelehrten Quacksalbern hätte aufnehmen können.
»Willst noch ein Bier?«, fragte die Henkerstochter augenzwinkernd und schenkte ihm nach, ohne seine Antwortabzuwarten. Ihr Lächeln ließ Simon daran erinnern, dass es auf dieser Erde noch mehr gab als verschwundene Kinder und selbst ernannte Inquisitoren. Er lächelte zurück. Dann glitten seine Gedanken wieder ins Düstere ab.
Gestern Abend hatte er seinen Vater noch bei einer Behandlung begleiten müssen. Den Knecht vom Bauern Haltenberger hatte ein böses Fieber gepackt. Sie hatten ihm kalte Umschläge gemacht, und Simons Vater hatte ihn zur Ader gelassen. Wenigstens konnte Simon seinen Vater überzeugen, etwas von dem ominösen Teepulver einzusetzen, das er jetzt schon mehrmals bei Fiebern verwendet hatte und das aus dem Holz eines seltenen Baumes stammen sollte. Die Symptome des Kranken erinnerten ihn an einen anderen Fall, als ein Fuhrmann aus Venedig bei ihnen auf der Straße zusammengebrochen war. Der Mann hatte faulig aus dem Mund gerochen und war am ganzen Körper mit Pusteln übersät gewesen. Die Leute sprachen von der französischen Krankheit und davon, dass der Teufel diejenigen damit bestrafe, die sich der unkeuschen Liebe hingaben.
Auch Simon hätte sich am gestrigen Abend gerne der unkeuschen Liebe hingegeben, aber beim späteren Stelldichein mit Magdalena in einem verlassenen Winkel der Stadtmauer hatte sie mit ihm nur über die Stechlin reden wollen. Auch sie war von der Unschuld der Hebamme überzeugt. Einmal hatte er versucht, sie am Mieder zu berühren, doch sie hatte sich abgewendet. Bei einem erneuten Versuch hatte sie der Nachtwächter entdeckt und nach Hause geschickt. Es war lange nach acht Uhr am Abend gewesen, um diese Zeit durften junge Mädchen nicht mehr auf der Straße sein. Simon hatte das Gefühl, einen bestimmten Moment verpasst zu haben, und er war sich nicht sicher, ob das Glück ihm bald einen zweiten bescherenwürde. Vielleicht hatte sein Vater ja doch recht, und er sollte die Finger von dem Henkersmädchen lassen. Simon war sich nicht sicher, ob Magdalena bloß mit ihm spielte oder ob ihr wirklich etwas an ihm lag.
Auch Jakob Kuisl konnte sich an diesem Vormittag nicht recht auf seine Arbeit konzentrieren. Während Simon neben ihm an einem Dünnbier nippte und aus dem Fenster starrte, rührte er aus getrockneten Kräutern und Gänsefett eine Paste an. Immer wieder legte er den Mörserklöppel zur Seite und stopfte erneut seine Pfeife. Seine Frau Anna Maria war draußen auf dem Feld, die beiden Zwillinge tobten unter dem Stubentisch herum, wobei sie ein paar Mal beinahe den Mörser umstießen. Jetzt schickte er sie unter Schimpfen und Fluchen hinaus in den Garten. Georg und Barbara zogen schmollend ab, wohl wissend, dass der Vater ihnen nicht lange böse sein konnte.
Gelangweilt blätterte Simon in dem abgegriffenen Buch, das der Henker aufgeschlagen auf dem Tisch liegen hatte. Simon hatte ihm zwei seiner Bücher zurückgebracht und war begierig auf neues Wissen. Der vor ihm liegende Wälzer gehörte nicht unbedingt dazu. Dioskurides’ De matenia medica war immer noch das Standardwerk der Heilkunde, und das obwohl sein Verfasser, ein griechischer Arzt, zur Zeit des Heilands gelebt hatte. Auch in der Ingolstädter Universität wurde nach ihm gelehrt. Simon seufzte. Er hatte das Gefühl, dass die Menschen auf der Stelle traten; so viele Jahrhunderte, und sie hatten nichts dazugelernt.
Trotzdem war er erstaunt, dass Kuisl auch dieses Buch besaß. In der Truhe und dem Apothekerschrank des Henkers lagerten gut ein Dutzend Bücher und unzählige Pergamente, darunter die Schriften der Benediktinerin Hildegard von Bingen, aber auch
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