Die Henkerstochter
auswärtige Fuhrleute, die Angst haben, sich später im Vorüberfahren die Lepra zu holen«, warf Simon ein. »Schließlich führt die Handelsstraße nicht unweit an der Hohenfurcher Steige vorbei.«
Jakob Kuisl spuckte aus. »Da kenn ich genügend Schongauer, die sich deshalb genauso in die Hosen scheißen. Die Kirche will das Siechenhaus, aber die Patriziersind dagegen, weil sie eben Angst haben, dass der Handel dann einen großen Bogen um unser Städtchen macht.«
Simon schüttelte den Kopf. »Dabei gibt es Siechenhäuser in vielen großen Städten, sogar in Regensburg und Augsburg ... «
Der Henker ging hinüber in die Apothekerkammer, um den Tiegel dort abzustellen. »Unsere Pfeffersäcke sind feige Hunde«, rief er von dort zu Simon herüber. »Ein paar von denen gehen bei mir regelmäßig ein und aus; die zittern schon, wenn die Pest noch in Venedig ist! «
Als er zurückkam, trug er einen armlangen Knüppel aus Lärchenholz über der Schulter und grinste. »Wir sollten uns dieses Siechenhaus auf alle Fälle einmal näher anschauen. Ich hab das Gefühl, dass grad zu viel auf einmal passiert, als dass das alles Zufälle sein können.«
»Jetzt gleich?«, fragte Simon.
»Jetzt gleich«, sagte Jakob Kuisl und schwang den Knüppel. »Vielleicht treibt sich irgendwo dort draußen auch der Teufel herum. Ich wollt schon immer einmal dem Leibhaftigen den Rücken gerben.«
Sein massiger Körper schob sich durch die schmale Türöffnung hinaus in den Aprilmorgen. Simon fröstelte. Gut möglich, dass selbst der Teufel Angst vor dem Schongauer Henker hatte.
Die Baustelle des Siechenhauses lag an der Hohenfurcher Steige, ein gerodetes Waldstück direkt neben der Straße, keine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Simon hatte den Arbeitern schon des Öfteren im Vorübergehen zugesehen. Sie hatten bereits das Fundament eingelassen und Mauern aus Ziegelsteinen hochgezogen. Der Medicus erinnerte sich, beim letzten Mal Holzgerüste und einen Dachstuhl gesehen zu haben. Auch die Grundmauern derkleinen Kapelle daneben waren bereits fertiggestellt gewesen.
Simon dachte an die Gottesdienste der letzten Monate, in denen der Pfarrer in der Predigt oft stolz vom voranschreitenden Bau berichtet hatte. Die Kirche erfüllte sich mit dem Siechenhaus einen lange gehegten Wunsch. Die Pflege der Armen und Kranken war ihre ureigenste Aufgabe. Außerdem waren die hoch ansteckenden Leprakranken eine Gefahr für die ganze Stadt. Bislang hatte man sie immer nach Augsburg ins dortige Siechenhaus abgeschoben. Doch die Augsburger hatten selbst genug Aussätzige, so dass sie in letzter Zeit ein paar Mal die Aufnahme fast verweigert hatten. Derartige Bittgänge wollte sich Schongau in Zukunft nicht mehr bieten lassen. Das neue Siechenhaus sollte ein Symbol der städtischen Unabhängigkeit sein, auch wenn viele im Stadtrat den Bau eher ablehnten.
Von der einst so geschäftigen Baustelle war nun nicht mehr viel zu sehen. Viele der Mauern waren eingestürzt, als hätte sich jemand mit aller Macht dagegen geworfen. Der Dachstuhl ragte als rußiges Skelett in den Himmel, die meisten Holzgerüste waren zersplittert oder verbrannt. In der Luft lag der Geruch von nasser Asche. Im Straßengraben steckte ein verlassenes Fuhrwerk fest, auf dem Holz und Fässer geladen waren.
In einer Ecke der Rodung stand ein alter, aus Natursteinen aufgeschichteter Brunnen, an dessen Rand eine Gruppe Handwerker saß und fassungslos auf den Hort der Zerstörung starrte. Die Arbeit von Wochen, wenn nicht Monaten war beim Teufel. Der Bau war für die Männer täglicher Broterwerb gewesen, ihre Zukunft war jetzt ungewiss. Noch hatte die Kirche sich nicht geäußert, wie es weitergehen sollte.
Simon grüßte die Arbeiter mit einem Winken und ging ein paar Schritte auf sie zu. Misstrauisch beäugten sie den Medicus, während jeder weiter an seinem Stück Brot kaute. Offensichtlich hatte der Medicus sie beim Essen gestört, und sie hatten nicht vor, ihre spärlich bemessene Pause mit Plaudern zu verschwenden.
»Sieht bös aus«, rief Simon im Gehen und zeigte auf die Baustelle. Der Henker folgte ihm in einigem Abstand. »Wisst ihr schon, wer’s war?«
»Was schert’s dich?« Einer der Handwerker spuckte vor ihm aus. Simon erkannte ihn als einen derjenigen, die vor zwei Tagen versucht hatten, in die Fronfeste zur Hebamme einzudringen. Der Mann blickte über Simons Schulter hinweg zu Jakob Kuisl. Der Henker lächelte und drehte den Knüppel auf seiner Schulter hin
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