Die Henkerstochter
erreichte er den Waldrand. Von rechts konnte er das Brechen von Zweigen hören. Der Henker näherte sich schnaufend mit kreisendem Knüppel.
»Lauf ihm nach, ich halt mich rechts, damit er nicht über die Felder entkommt!«, keuchte er. »Spätestens oben am Steilufer haben wir ihn. «
Simon war jetzt inmitten eines dichten Tannenwalds.Sehen konnte er die Gestalt nicht mehr, aber hören. Vor ihm brachen immer wieder Zweige, gedämpfte Schritte über den nadelbedeckten Boden entfernten sich schnell. Ab und zu meinte er, zwischen den Ästen hindurch einen Schemen zu erkennen. Der Mann, oder wer auch immer das dort vorne war, lief gebückt und irgendwie ... merkwürdig. Simon merkte, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Schon lange war er nicht mehr so lange und so schnell gerannt. Wenn er sich recht erinnerte, seit seiner Kindheit nicht. Er war es gewöhnt in der Stube Bücher zu lesen und dabei Kaffee zu trinken, das Laufen hatte er in den letzten Jahren stark vernachlässigt. Bis auf die paar Mal, als er vor zornigen Vätern schöner Bürgerstöchter die Flucht ergreifen musste. Aber auch das war schon eine Weile her.
Die Gestalt gewann gegenüber Simon an Vorsprung, das Knacken der Zweige wurde leiser. Von weiter rechts konnte er plötzlich das Splittern von Holz hören. Das musste der Henker sein, der wie ein Keiler über umgefallene Bäume hinwegsetzte.
Wenige Augenblicke später hatte Simon den Grund einer Talsohle erreicht. Steil stieg der Hang vor ihm an. Irgendwo dahinter begann das Lechhochufer. Statt Tannen wuchsen hier niedrige, ineinander verschlungene Büsche, die kaum ein Durchkommen ermöglichten. Simon zog sich an einem der Büsche hoch und ließ sofort fluchend wieder los. Er hatte mitten in einen Brombeerstrauch gegriffen, seine rechte Hand war übersät mit kleinen Dornen. Er lauschte, konnte aber nur hinter sich das Splittern von Holz hören. Jetzt sah er von dort den Henker kommen. Kuisl sprang über einen modrigen Baumstamm und blieb schließlich vor ihm stehen.
»Und?«, fragte Jakob Kuisl. Auch er war von der Verfolgungsjagd außer Atem, wenn auch nicht annähernd so wie der Medicus. Simon schüttelte den Kopf, während er seinen von Seitenstechen geplagten Körper nach vorne beugte. »Ich glaube, wir haben ihn verloren«, keuchte er.
»Verdammt«, fluchte der Henker. »Ich bin mir sicher, das war einer der Männer, die die Baustelle zerstört haben.«
»Warum ist er dann zurückgekommen?«, fragte Simon immer noch keuchend.
Jakob Kuisl zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, vielleicht wollte er sehen, ob die Baustelle verlassen ist. Vielleicht wollte er noch mal hin. Vielleicht wollte er auch nur seinen guten Tabak suchen.« Er schlug mit seinem Knüppel gegen eine verkümmerte Fichte. »Sei’s drum. Jetzt haben wir ihn sowieso verloren.« Er blickte den steilen Hang hinauf. »Er muss jedenfalls ziemlich kräftig sein, wenn er hier hoch kommt. Das schafft nicht jeder.«
Der Medicus hatte sich inzwischen auf einen moosbewachsenen Stamm gesetzt und zog sich mühselig die Brombeerdornen aus der Hand. Unzählige kleine Mücken kreisten um seinen Kopf und suchten nach einer geeigneten Stelle zum Blutsaugen.
»Lasst uns von hier verschwinden«, sagte er, während er versuchte, die Mücken mit wedelnden Händen zu verscheuchen.
Der Henker nickte und ging ein paar Schritte weiter. Plötzlich blieb er stehen und zeigte auf den Boden. Vor ihm lag ein entwurzelter Baum. An der Stelle, wo früher die Wurzel in der Erde gesteckt hatte, war nun feuchter, lehmiger Untergrund. Genau in der Mitte prangten zwei gut sichtbare Stiefelspuren. Die linke war weniger deutlich und endete mit einem Schleifen an der Sohle.
»Der Hinkende«, flüsterte Jakob Kuisl. »Es war tatsächlich einer von den Söldnern.«
»Aber warum haben sie das Siechenhaus zerstört? Und was hat das alles mit den toten Kindern zu tun?«, fragte Simon.
»Das werden wir bald wissen, sehr bald«, murmelte der Henker. Sein Blick wanderte noch einmal über den oberen Saum des Hanges. Kurz glaubte er, dort oben eine Gestalt zu sehen, aber dann zogen wieder Nebelschwaden vorüber. Er holte den kleinen Tabaksbeutel aus der Manteltasche und begann sich im Gehen eine Pfeife zu stopfen.
»Wenigstens Geschmack hat er, der Teufel«, sagte er. »Das muss man ihm lassen, dem Sauhund.«
Der Teufel stand oben am Hang und blickte hinter einer Buche verborgen auf die zwei
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