Die Henkerstochter
reagieren, schritt er in Richtung der Grundmauern der Kapelle. Auch hier bot sich ein Bild der Verwüstung. Die einstigen Mauern waren umgestürzt und bildeten kleine Steinhügel. Er kletterte auf einen von ihnen hinauf und ließ seinen Blick umherschweifen. Der gefundene Beutel schien ihn immer noch zu beschäftigen. »So einen Tabak raucht hier keiner!«, rief er zu den beiden anderen hinunter.
»Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte der Zimmermann unwirsch. »Dieses Teufelskraut stinkt doch immer gleich.«
Der Henker fuhr aus seinen Gedanken hoch und blickte wütend auf Josef Bichler hinunter. Auf dem Steinhügel stehend, getaucht in Nebelschwaden, erinnerte er Simon an einen Riesen aus einer Sage. Der Henker deutete mit dem Finger auf den Zimmermann. »Du stinkst«, rief er. »Deine Zähne stinken, dein Maul stinkt, aber dieses ... Kraut, wie du sagst, das duftet! Es belebt die Sinne und reißt dich aus den Träumen! Es deckt die ganze Welt zu und hebt dich in den Himmel, lass dir das gesagt sein! Für solche Bauernschädel, wie du einer bist, ist es ohnehin zu schade. Es kommt aus der Neuen Welt und ist nicht gemacht für dahergelaufene Trottel.«
Bevor der Zimmermann etwas erwidern konnte, fuhr Simon dazwischen und deutete auf einen Berg brauner, nasser Erde gleich neben der Kapelle. »Seht, auch hier sind Spuren!«, rief er. Tatsächlich war der Haufen über und über mit Schuhabdrücken bedeckt. Mit einem letzten zornigen Blick stieg der Henker von seinem Hügel hinunter und untersuchte die Abdrücke. »Stiefelspuren«, sagteer schließlich. »Das sind Söldnerstiefel, so viel ist sicher. Dafür hab ich schon zu viel von denen gesehen.« Er pfiff laut. »Das hier ist interessant ... « Er deutete auf einen bestimmten Abdruck, der am Sohlenende leicht verwischt war. »Dieser Mann hinkt. Er zieht den einen Fuß ein wenig nach und kann nicht so fest auftreten.«
»Der Klumpfuß des Teufels!«, zischte Josef Bichler.
»Einen Dreck«, murrte Kuisl. »Wenn’s ein Klumpfuß wär, dann würdest selbst du das sehen. Nein, der Mann hinkt. Wahrscheinlich hat er im Krieg einen Steckschuss abbekommen. Die Kugel haben sie entfernt, aber das Bein ist steif geblieben.«
Simon nickte. Von seiner Zeit als Sohn eines Feldschers konnte er sich noch an solche Operationen erinnern. Mit einer langen, dünnen Greifzange hatte sein Vater im Fleisch des Verletzten gewühlt, bis er endlich die Bleikugel fand. Oft hatten sich danach Eiter und Wundbrand entwickelt, und der Soldat war wenig später daran gestorben. Manchmal war es auch gut gegangen, und der Mann konnte zurück ins Gefecht, nur um das nächste Mal mit einem Bauchschuss vor ihnen zu liegen.
Der Henker deutete auf den Berg feuchter Erde. »Was macht der Lehm hier?«, fragte er.
»Damit verputzen wir die Wände und den Boden«, sagte der Zimmermann. »Der Lehm ist aus der Grube bei der Ziegelhütte hinter dem Gerberviertel. «
»Das Gelände hier gehört doch der Kirche, oder?«, fragte Simon jetzt den Zimmermann.
Josef Bichler nickte. »Der alte Schreevogl, der Kauz, hat’s der Kirche vermacht, kurz bevor er letztes Jahr gestorben ist, und der junge Erbe schaut jetzt dumm aus der Wäsche.«
Simon erinnerte sich an sein vorgestriges Gespräch mitJakob Schreevogl. So ähnlich hatte es ihm auch der Patriziersohn erzählt. Bichler grinste ihn an und pulte irgendetwas zwischen seinen Zähnen hervor.
»Hat den jungen Schreevogl mächtig gewurmt«, sagte er.
»Woher weißt du das?«, fragte Simon.
»Hab für den Alten früher gearbeitet, drüben in der Brennerei. Die sind sich ganz schön in die Haare geraten, und dann hat der Alte gesagt, dass er das Grundstück der Kirche gibt für das Siechenhaus, und dass ihm der Himmel das lohnen tät, und dann hat er seinen Sohn zum Teufel geschickt.«
»Und der junge Schreevogl?«
»Der hat mächtig geflucht, vor allem, weil doch schon ein zweiter Brennofen hier geplant war. Und jetzt bekommt alles die Kirche.«
Simon wollte noch weiter fragen, doch ein krachendes Geräusch ließ ihn herumfahren. Es war der Henker, der über einen Stapel Bretter gesprungen war und jetzt über die Straße auf den Waldrand zulief. Dort, schon fast verschluckt vom Nebel, konnte Simon eine weitere Gestalt erkennen. Sie lief geduckt zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Lechhochufer.
Simon ließ den verdutzten Zimmermann stehen und lief quer über die Rodung. So hoffte er, der Gestalt den Weg abzuschneiden. Nur wenige Meter hinter ihr
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