Die Henkerstochter
kleinen Gestalten direkt unter ihm. Neben ihm lag ein großer Findling. Kurz war er versucht, den Stein ins Rollen zu bringen. Er würde im Fallen weitere Steine mit sich reißen, eine Lawine aus Kies, Felsen und toten Ästen, die sich auf die beiden dort unten ergießen und sie vielleicht begraben würde. Seine bleiche Knochenhand näherte sich dem Findling, aber dann drehte die größere der beiden Gestalten plötzlich den Kopf in seine Richtung. Für einen kurzen Moment sah er in die Augen des Mannes. Hatte der Henker auch ihn gesehen? Er drückte sich wieder an den Buchenstamm und verwarf seinen Plan. Dieser Mann war zu stark und zu geschickt. Er würde die Felslawine kommen hören und zur Seite springen. Der kleine Quacksalber war nicht das Problem, ein Schnüffler, dem er bei der nächsten Gelegenheit in irgendeiner dunklen Ecke der Stadt die Kehle durchschneiden würde. Aber der Henker …
Er hätte nicht hierher zurückkommen sollen. Nicht beiTageslicht. Es war klar, dass sie irgendwann auch die Baustelle untersuchen würden. Aber er hatte seinen Tabaksbeutel verloren, eine Spur, die sie auf seine Fährte bringen könnte. Außerdem nagte in ihm ein Verdacht. Darum hatte er beschlossen, selbst nach dem Rechten zu sehen. Nur, die anderen durften davon nichts mitbekommen. Sie warteten darauf, dass der Teufel kam und ihnen ihren Sold aushändigte. Sollten die Arbeiter wieder anfangen zu bauen, dann würden sie zurückkommen und erneut alles einreißen, so war der Auftrag. Aber der Teufel war schlau, er hatte sich gleich gedacht, dass mehr hinter der Sache stecken musste. Also war er hingegangen. Dass zum gleichen Zeitpunkt der kleine Schnüffler und der Henker aufgetaucht waren, war ärgerlich. Aber sie hatten ihn nicht gekriegt, er würde es einfach noch einmal nachts versuchen.
Er hatte den anderen gesagt, sie sollten nach dem Mädchen Ausschau halten, aber sie hatten seinen Befehl nur widerwillig befolgt. Noch gehorchten sie ihm, weil sie Angst vor ihm hatten und weil sie ihn noch von früher her als Anführer akzeptierten. Aber sie widersprachen ihm jetzt immer öfter. Sie begriffen nicht, wie wichtig es war, die Kinder zu beseitigen. Sie hatten den kleinen Jungen gleich zu Anfang erwischt und meinten jetzt, dass sich die anderen in die Hosen scheißen würden. Sie verstanden nicht, dass man eine Sache zu Ende bringen musste. Der Auftrag war gefährdet, der Sold stand auf dem Spiel! Diese dreckigen, kleinen Kröten, die glaubten, ihm davonlaufen zu können. Eine Drecksbande, quiekende Ferkel, denen man die Kehle durchschneiden musste, damit die grellen Töne in seinem Kopf aufhörten.
Schrilles Glockenläuten, das Weinen der Weiber, das hohe, augäpfelsprengende Greinen der Säuglinge … Wieder schoben sich Nebel vor seine Augen, und er musste sich am Buchenstamm festkrallen, um nicht den Hang hinunterzukippen. Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, dann erst wurden seine Gedanken wieder klar. Zunächst musste er das Mädchen beseitigen, dann den Schnüffler und den Henker. Der Henker würde am schwierigsten sein, ein würdiger Gegner. Und dann würde er dort unten auf der Baustelle nach dem Rechten sehen. Er war sich sicher, dass der Pfeffersack ihm irgendetwas verheimlicht hatte. Aber den Teufel konnte man nicht betrügen. Und wer es versuchte, in dessen Blut badete der Teufel!
Et atmete den Duft von frischer Erde und zarten Blüten ein. Alles war gut. Mit einem Lächeln auf den Lippen wanderte er am Saum des Hügels entlang, bis ihn der Wald verschluckte.
Als Simon und Jakob Kuisl zurück nach Schongau kamen, hatte sich das Auftauchen der geisterhaften Gestalt bereits herumgesprochen. Josef Bichler und die anderen Arbeiter waren schnurstracks zum Marktplatz gelaufen und hatten jedem von der bevorstehenden Ankunft des Teufels erzählt. An den Ständen rund um das Ballenhaus herrschte Getuschel und Geflüster; viele der Handwerker am Platz hatten ihre Arbeit niedergelegt und standen in Gruppen zusammen, eine gespannte Stimmung lag über der Stadt. Simon spürte, dass nicht viel fehlte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Ein falsches Wort, ein schriller Schrei, und das Volk würde sich Einlass zur Feste verschaffen und die Stechlin eigenhändig verbrennen.
Unter den misstrauischen Blicken der Marktfrauen und Handwerker gingen Medicus und Henker durch das Portal der Stadtpfarrkirche. Kälte umfing sie, als sie in das Inneredes größten Gotteshauses der Stadt traten. Simons Blick
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