Die Henkerstochter
wanderte über die hohen Säulen, an denen der Putz abbröckelte, über die blinden Fensterscheiben bis hin zum morschen Chorgestühl. Ein paar vereinzelte Kerzen brannten in den dunklen Seitenschiffen und warfen ihr flackerndes Licht auf vergilbte Fresken.
Nicht nur Schongau, auch die Stadtpfarrkirche »Mariä Himmelfahrt« hatte bessere Zeiten gesehen. Nicht wenige Schongauer glaubten, dass es sinnvoller gewesen wäre, das Geld in die Renovierung der Kirche statt in den Bau des Siechenhauses zu stecken. Besonders der Kirchturm machte einen baufälligen Eindruck. In den gegenüberliegenden Wirtshäusern malten sich die Schongauer schon in den düstersten Farben aus, was passieren würde, wenn dieser Turm einmal während einer Messe einstürzen sollte.
Jetzt an einem Samstag zur Mittagszeit saßen nur ein paar betende alte Weiber in den Kirchenbänken. Gelegentlich stand eine von ihnen auf und ging in den Beichtstuhl zur Rechten, um nach einiger Zeit murmelnd, einen Rosenkranz in den dürren Fingern windend, wieder herauszukommen. Jakob Kuisl setzte sich in die hinterste Kirchenbank und beobachtete die Alten. Als sie ihn sahen, murmelten sie noch heftiger ihre Gebete und drückten sich dicht an die Mauer des Hauptschiffs, wenn sie an ihm vorbeieilten.
Der Henker war in der Kirche nicht gern gesehen, sein fest zugewiesener Platz war hinten ganz links, das Abendmahl erhielt er immer als Letzter. Trotzdem ließ es sich Jakob Kuisl auch heute nicht nehmen, den alten Weibern besonders freundlich zuzugrinsen. Sie quittierten es mit einem Kreuzzeichen und verschwanden schleunigst aus der Kirche.
Simon Fronwieser wartete, bis die letzte von ihnen denBeichtstuhl verlassen hatte, dann begab er sich selbst hinein. Die warme Stimme des Stadtpfarrers Konrad Weber war durch das eng vergitterte Holzfenster zu vernehmen.
»Misereatur tui omnipotens Deus, et dimissis peccatis tuis, perducat te ad vitam ...«
»Herr Pfarrer«, flüsterte Simon. »Ich möchte nicht beichten, ich brauch nur eine Auskunft.«
Das lateinische Gemurmel verstummte. »Wer bist du?«, fragte der Pfarrer.
»Ich bin’s, der Fronwieser Simon, der Sohn des Chirurgus.«
»Ich sehe dich selten in der Beichte, auch wenn man mir berichtet, dass du allen Grund dazu hättest.«
»Nun, ich ... Ich werd mich bessern, Herr Pfarrer. Gleich jetzt will ich beichten. Aber zunächst muss ich etwas über das Siechenhaus wissen. Stimmt es, dass der alte Schreevogl Euch den Grund an der Hohenfurcher Steige überlassen hat, obwohl er ihn eigentlich schon seinem Sohn versprochen hatte?«
»Warum willst du das wissen?«
»Die Zerstörungen am Siechenhaus. Ich möchte gerne wissen, wer dahintersteckt.«
Der Pfarrer schwieg lange. Schließlich räusperte er sich. »Die Leut sagen, es sei der Teufel gewesen«, flüsterte er. »Und Ihr, glaubt Ihr das?«
»Nun, der Teufel kann in mannigfaltiger Weise erscheinen, auch als Mensch. In ein paar Tagen ist Walpurgisnacht, dann wird der Leibhaftige sich wieder mit ein paar gottlosen Weibern vereinen. Es heißt, auf diesem Grundstück hätten schon vor langer Zeit Hexentänze stattgefunden...«
Simon zuckte kurz zusammen.
»Wer sagt das?«
Der Pfarrer zögerte, bevor er weitersprach.
»Die Leute erzählen es. Dort, wo jetzt das Kirchlein gebaut wird, sollen früher Zauberer und Hexen ihr Unwesen getrieben haben. Vor langer Zeit stand dort schon einmal eine Kapelle, aber sie stürzte ein und verfiel, ebenso wie das frühere Siechenhaus. Ganz so, als ob ein böser Zauber über der Gegend liegt ... « Die Stimme des Pfarrers ging in Flüstern über. »Man hat dort einen alten heidnischen Steinaltar gefunden, den wir glücklicherweise zerstören konnten. Für die Kirche war das ein weiterer Grund, dort ein neues Siechenhaus und eine Kapelle zu bauen. Das Böse muss weichen, wenn Gottes Licht es trifft. Wir haben den ganzen Platz mit Weihwasser besprengt.«
»Offenbar ohne Erfolg«, murmelte Simon.
Dann fragte er weiter: »Hat der alte Schreevogl seinem Sohn dieses Grundstück bereits vermacht gehabt? War er also bereits als Erbe eingetragen?«
Der Pfarrer räusperte sich.
»Du kennst den alten Schreevogl noch? Ein ... nun ja, ein störrischer alter Kauz. Er kam eines Tages zu mir in die Pfarrei, ganz aufgewühlt, sagte, sein Sohn verstehe nichts vom Geschäft, und er würde der Kirche jetzt gerne den Grund unten an der Steige überlassen. Wir haben sein Testament geändert, der Probst war Zeuge.«
»Und kurz danach ist er
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