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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
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in ferner Zukunft würde er seinen Enkeln davon erzählen, und sie würden ihn verstehen. Sie würden anerkennen, dass er dies alles nur für sie auf sich genommen hatte, für den Fortbestand ihrer Familie, ihrer Dynastie . Dass er die Familie gerettet hatte. Aber dann fiel ihm ein, dass er schon zu weit gegangen war. Er konnte keinem mehr davon erzählen, zu viel war schon passiert, zu viel Schmutziges und Blutiges. Er würde das Geheimnis mit ins Grab nehmen müssen.
    Ein Zweig knackte in der Dunkelheit, ein flatterndes Geräusch war zu hören. Der Mann hielt inne, sein Atem stockte. Vorsichtig zog er die kleine Laterne hervor, die er bislang unter dem Mantel verborgen hatte, und leuchtete in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Eine Eule erhob sich nicht weit von ihm in die Luft und flog über die Rodung hinweg. Er lächelte. Die Angst hatte ihn schon närrisch gemacht.
    Er sah sich ein letztes Mal nach allen Seiten um, dann betrat er die Baustelle und eilte auf das Gebäude in der Mitte zu.
    Wo sollte er anfangen? Er ging um die eingestürzten Grundmauern herum und suchte einen Hinweis. Als er nichts fand, stieg er über einen Steinhaufen ins Innere und klopfte mit der Schaufel auf die Steinplatten am Boden. Das metallische Geräusch drang ihm durch Mark und Bein. Er hatte das Gefühl, dass man es bis Schongau hören konnte. Sofort stellte er das Klopfen ein.
    Schließlich kletterte er auf ein Mäuerchen, das an das Hauptgebäude angrenzte, und ließ seinen Blick über die Rodung schweifen. Das Siechenhaus, die Kapelle, Stapel von Balken, ein Brunnen, Säcke mit Kalk daneben, ein paar umgeworfene Eimer …
    Sein Blick fiel auf eine alte Linde in der Mitte der Lichtung. Ihre Äste reichten fast bis hinunter auf den Boden. Aus irgendeinem Grund hatten die Arbeiter sie stehen lassen. Vielleicht weil die Kirche sie nicht fällen wollte, gedacht als zukünftiger Schattenspender für die Kranken und Siechen?
    Vielleicht weil der Alte es so verfügt hatte?
    Mit hastigen Schritten rannte er auf die Linde zu, duckte sich unter den Ästen hindurch und fing an zu graben. Die Erde war fest wie Lehm, zähes Wurzelwerk verzweigte sich von der Linde weg in alle Richtungen. Der Mann fluchte und grub, bis ihm der Schweiß in Strömen in den Mantel kroch. Mit beiden Händen fasste er die Schaufel am Stiel und trieb das Blatt durch armdicke Wurzelstränge, bis sie zersplitterten, nur um darunter auf weitere Wurzeln zu stoßen. Er versuchte es an einer anderen Stelle nahe am Baum, mit dem gleichen Ergebnis. Er keuchte und schluchzte, er hieb immer schneller auf Erde und Holz ein, dann hielt er endlich um Atem ringend inne und lehnte sich auf den Stiel. Es musste die falsche Stelle sein, hier war nichts vergraben.
    Mit der Laterne leuchtete er die Linde nach möglichen Astlöchern ab. Unterhalb des ersten Astes, gerade so hoch, dass er mit den Armen nicht mehr hinreichte, befand sich ein Loch von der Größe einer Männerfaust. Er stellte die Laterne ab und zog sich am Ast nach oben. Das erste Mal rutschte er ab, weil seine Hände nass von Schweiß waren, dann endlich hatte er seinen schweren Körper hinaufgehievt. Langsam schob er sich auf den Stamm zu, bis er mit der rechten Hand in das Astloch hineinlangen konnte. Er fühlte nasses Stroh, dazwischen etwas Kaltes, Hartes. Offensichtlich Metall.
    Sein Herz tat einen Sprung.
    Plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch seine Hand, er zog sie heraus und sah im gleichen Moment etwas Großes, Schwarzes unter wütendem Protest davonflattern. Über seinen Handrücken zog sich ein fingerlanger Schnitt, der heftig zu bluten begann. Fluchend warf er den rostigen Löffel, den er immer noch krampfhaft festhielt, im weiten Bogen von sich und ließ sich zu Boden gleiten. Unten angekommen leckte er das Blut von der Wunde, während ihm Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung über die Wangen rollten. Das Schimpfen der Elster klang wie Hohn zu ihm herüber.
    Alles vergeblich.
    Er würde es nie finden. Der Alte hatte sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Noch einmal glitt sein Blick über die Baustelle. Die Mauern, die Fundamente der Kapelle, der Brunnen, Holzstapel, die Linde, ein paar verkrüppelte Fichten am Rande der Lichtung. Es musste etwas sein, das schon vorher da gewesen war, etwas, das man sich gut merken konnte, das man wiederfinden konnte. Aber vielleicht hatten die Arbeiter diesen Orientierungspunkt ja bereits entfernt, ohne es zu ahnen.
    Er schüttelte den Kopf. Das

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