Die Henkerstochter
Gelände war zu groß. Hier konnte er nächtelang graben, ohne auch nur das Geringste zu finden. Aber dann regte sich Trotz in ihm, er durfte nicht so schnell aufgeben. Nicht jetzt schon. Es stand zu viel auf dem Spiel. Also ein neuer Plan ... Er musste systematisch vorgehen, das Gelände in kleinere Parzellen einteilen und dann Stück für Stück absuchen. Wenigstens eines konnte er sicher sagen: Das Gesuchte war hier. Er würde Geduld brauchen, aber schließlich würde es sich auszahlen.
Nicht weit entfernt, gelehnt an einen Baumstamm nahe der Rodung, stand der Teufel und sah dem Mann beim Graben zu. Er blies einen Rauchring in den Nachthimmel und blickte ihm nach, wie er Richtung Mond aufstieg. Er hatte gewusst, dass es mit der Baustelle noch etwas anderes auf sich hatte. Man log ihn nicht an. Das machte ihn wütend. Eigentlich hatte er gute Lust, dem Mann dort zwischen den Mauern sofort die Kehle durchzuschneiden und sein Blut quer über die Lichtung zu verteilen. Aber dann würde er sich gleich auf zweierlei Art den Spaß verderben: Er würde keinen Lohn mehr bekommen für weitere Sabotagen, und er würde nie erfahren, was der Mann so verzweifelt suchte. Also musste er sich gedulden. Spätestens, wenn der Mann fündig geworden war, konnte er ihn immer noch für seine Lügen bestrafen. So wie er den Medicus und den Henker noch bestrafen würde, dafür, dass sie ihm nachstellten. Dieses eine Mal war ihm der Quacksalber noch entkommen, das würde ihm nicht noch einmal passieren.
Der Teufel stieß eine weitere Wolke in den Nachthimmel. Dann machte er es sich im weichen Moos unten am Stamm der Tanne gemütlich und beobachtete aufmerksam den grabenden Mann. Vielleicht würde er ja doch noch etwas finden.
11
Sonntag,
den 29. April Anno Domini 1659,
6 Uhr morgens
S imon erwachte durch ein Knarren, ein leises Geräusch, das sich in seine Träume geschlichen hatte. Von einer Sekunde auf die andere war er hellwach. Neben ihm schlief Magdalena tief und fest. Ihr Atem ging ruhig, ein Lächeln lag auf ihren Lippen, so als ob sie gerade etwas Schönes träumte. Simon hoffte, sie träumte von der vergangenen Nacht.
Zum Kräutersammeln war er mit Magdalena am Fluss entlanggegangen. Simon hatte versucht, die zurückliegenden Vorfälle in Schongau mit keinem Wort zu erwähnen. Er wollte wenigstens eine Zeitlang vergessen, wollte nicht weiter an den Mann denken, den sie den Teufel nannten und der es darauf abgesehen hatte, ihn umzubringen. Er wollte nicht an die Hebamme in der Fronfeste denken, die noch immer ohnmächtig war, und er wollte sich auch nicht an die toten Kinder erinnern. Es war Frühling, die Sonne brannte warm, und das Wasser des Lechs plätscherte leise dahin.
Nach gut einer Meile durch den Auenwald, der sich an den Ufern des Flusses erstreckte, gelangten sie an Simons Lieblingsplatz, eine kleine Kiesbucht, die vom Weg aus nicht einzusehen war. Eine große Weide wölbte ihre Äste über die Bucht, so dass der Fluss dahinter zwischen denBlättern funkelte. Hier hatte er in den letzten Jahren oft gesessen, wenn er nachdenken wollte. Jetzt blickte er gemeinsam mit Magdalena auf den Fluss, sie sprachen über den letzten Markttag, als sie miteinander getanzt hatten und die Leute an den Tischen ringsum sich die Mäuler zerrissen. Sie erzählten von ihrer Kindheit, Simon von seiner Zeit als Feldscher und Magdalena von dem Fieber, das sie mit sieben Jahren für viele Wochen ans Bett gefesselt hatte. In dieser Zeit hatte sie auch das Lesen von ihrem Vater gelernt, der während all der Tage und Nächte nicht von ihrem Bett gewichen war. Seitdem half sie ihm beim Anrühren der Tinkturen und beim Zermörsern der Kräuter, und sie lernte immer wieder Neues, wenn sie in den Büchern ihres Vaters stöberte.
Für Simon war es ein Wunder. Magdalena war die erste Frau, mit der er sich über Bücher unterhalten konnte! Die erste Frau, die Johann Scultetus’ Wundarzeneyisches Zeughaus gelesen hatte und die die Werke von Paracelsus kannte. Nur gelegentlich fuhr ein Stich durch sein Herz, wenn er daran dachte, dass dieses Mädchen niemals seine Frau werden konnte. Als Henkerstochter war sie ehrlos, eine Verbindung mit ihr würde die Stadt niemals zulassen. Sie müssten in die Fremde gehen, ein Henkersweib und ein fahrender Feldchirurgus, und ihren Unterhalt auf den Straßen erbetteln. Aber warum auch nicht? Seine Liebe zu diesem Mädchen war jetzt in diesem Augenblick so stark, dass er alles für sie aufgeben
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