Die Henkerstochter
würde.
Den ganzen Nachmittag und Abend hatten sie geredet, und plötzlich war das Sechs-Uhr-Läuten der Stadtpfarrkirche zu hören gewesen. In einer halben Stunde wurden die Tore Schongaus geschlossen, sie wussten, dass sie es niemals mehr rechtzeitig zurück schaffen würden. Also suchten sie eine verlassene Scheune in der Nähe auf, woSimon schon bei früheren Gelegenheiten geschlafen hatte, und blieben dort über Nacht. Sie redeten weiter, lachten über längst vergangene Kinderstreiche. Schongau, seine tuschelnden Bürger und ihre beiden Väter waren weit, weit weg. Gelegentlich fuhr Simon Magdalena über die Wange oder strich ihr übers Haar, aber immer wenn sich seine Finger ihrem Mieder näherten, schob sie ihn lächelnd weg. Sie wollte sich ihm noch nicht hingeben, und Simon akzeptierte das. Irgendwann schließlich waren sie wie zwei Kinder nebeneinander eingeschlafen.
Das Knarren des Scheunentors hatte Simon im Morgengrauen aus dem Halbschlaf gerissen.
Sie hatten ihr Lager oben unter dem Dach aufgeschlagen, eine Leiter führte von dort nach unten auf den Boden der Scheune. Vorsichtig blickte der Medicus an einem Strohballen vorbei nach unten in die Tiefe. Er sah, dass das Tor einen Spaltbreit offen stand, das erste Licht der Morgendämmerung fiel hinein. Er war sich sicher, dass er am Abend zuvor das Tor geschlossen hatte, schon der Kälte wegen. Leise schlüpfte er in seine Hose und warf einen letzten Blick auf die noch schlafende Magdalena. Direkt unter ihm, verdeckt durch die eingezogene Holzdecke des Dachbodens, waren jetzt schlurfende Schritte zu hören. Sie näherten sich der Leiter. Simon suchte im Stroh nach seinem Messer, ein perfekt geschliffenes Stilett, das er auch schon beim Sezieren von Toten und bei Amputationen von Verwundeten benutzt hatte. Fest umklammerte er mit seiner rechten Hand den Griff, mit der linken schob er einen besonders großen Strohballen direkt an die Kante des Dachbodens.
Unter ihm tauchte eine Gestalt auf. Er wartete noch einen kurzen Augenblick, dann gab er dem Ballen einen letzten Schubs, so dass dieser direkt auf die Gestalt hinabrauschte.Mit einem gellenden Schrei sprang Simon hinterher, in der festen Absicht den Fremden zu Boden zu reißen und ihm gegebenenfalls das Messer in den Rücken zu bohren.
Ohne nach oben zu sehen, drehte sich der Mann zur Seite, der Ballen ging neben ihm zu Boden und zerplatzte in einer Wolke aus Staub und Stroh. Gleichzeitig riss er die Arme nach oben und wehrte den Angriff von Simon ab. Der Medicus spürte, wie starke Finger seine Handgelenke wie Schraubzwingen umfassten. Mit einem schmerzhaften Keuchen ließ er das Stilett los. Dann rammte ihm die Gestalt das Knie in den Unterleib, so dass er nach vorne zu Boden kippte. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Blind vor Schmerz kroch er auf dem Boden umher und suchte verzweifelt sein Messer. Ein Stiefel stellte sich auf seine rechte Hand und drückte zunächst sanft, dann immer fester zu. Simon schnappte nach Luft, als er merkte, wie es im Inneren seines Handgelenks zu knacken begann. Plötzlich ließ der Schmerz nach. Die Gestalt, die er nur noch durch einen Nebel wahrnahm, hatte den Fuß von seiner Hand genommen.
»Wenn du noch einmal meine Tochter verführst, brech ich dir beide Hände und leg dich auf die Streckbank, hast mich verstanden?«
Simon hielt sich den Unterleib und kroch aus der Gefahrenzone.
»Ich hab sie nicht ... angerührt«, ächzte er. »Nicht so wie Ihr meint. Aber wir ... lieben uns. «
Trockenes Gelächter drang zu ihm hinüber.
»Drauf geschissen! Dieses Mädchen ist eine Henkerstochter, hast du das vergessen? Sie ist ehrlos! Willst du sie weiter zum Gespött der Leute machen, bloß weil du dich nicht im Zaum halten kannst?«
Jakob Kuisl stand jetzt direkt über Simon und rollte ihn mit seinem Stiefel auf den Rücken, so dass er ihm direkt in die Augen sehen konnte.
»Sei froh, dass ich dich nicht gleich entmannt hab«, stieß er hervor. »Würde dir und vielen Mädchen in der Stadt so manchen Ärger ersparen!«
»Lass ihn in Ruh, Vater!«, kam jetzt vom Boden her die Stimme Magdalenas. Sie war durch den Kampfeslärm aufgewacht und blickte schlaftrunken und mit Stroh im Haar nach unten. »Wenn überhaupt, dann hab ich den Simon verführt und nicht andersrum. Außerdem, wenn ich sowieso ehrlos bin, dann kommt’s auf das bisschen mehr auch nicht an.«
Der Henker drohte mit der Faust nach oben. »Ich hab dir nicht das Lesen und Kurieren beigebracht, dass du dir
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