Die Henkerstochter
Giebel auf und zünden ein Feuerchen unter ihr an. Und dann werden wir ja sehen, wer noch mit ihr unter der Decke steckt!«
Der Pfarrer nickte bedächtig. »Da ist etwas Wahres dran«, sagte er. »Wir können nicht zusehen, wie unsere Kinder eines nach dem anderen dem Teufel anheimfallen, ohne dass wir ihm Einhalt gebieten. Die Hexen müssen brennen.«
»Die Hexen?«, fragte Simon nach.
Der Pfarrer zuckte mit den Schultern. »Es ist doch offensichtlich,dass dies nicht das Werk einer einzelnen Hexe sein kann. Der Teufel treibt es mit vielen. Außerdem ...« Er hob den Zeigefinger wie zum letzten Beweis einer logischen Kette von Argumenten. »Die Stechlin ist doch in der Feste, oder? Also muss es noch jemand anderes sein! Schon bald ist Walpurgisnacht! Wahrscheinlich tanzen die Buhlinnen des Satans jetzt schon nachts im Wald mit dem Leibhaftigen und küssen seinen Anus. Dann ziehen sie aus in die Stadt, nackt und berauscht, um das Blut unschuldiger Kinderlein zu trinken.«
»Aber das glaubt Ihr doch selbst nicht!«, warf Simon ein wenig unsicher ein. »Das sind doch nur Schauergeschichten, weiter nichts!«
»Die Stechlin hat Flugsalben und Hexenspeichel bei sich zu Hause gehabt«, rief ein Bauer von weiter hinten. »Das hat mir der Berchtholdt erzählt. Der war bei der Folter mit dabei. Jetzt hat sie sich ohnmächtig gehext, damit sie ihre Gespielinnen nicht verraten kann! Und zur Walpurgisnacht werden sie sich noch mehr Kinder holen!«
Franz Strasser nickte zustimmend. »Der Johannes war oft im Wald. Wahrscheinlich haben sie ihn dort angelockt. Er hat immer wieder von so einem Versteck gefaselt.«
»Einem Versteck?«, fragte Jakob Kuisl.
Während der letzten Minuten hatte der Henker schweigend weiter die Leiche gemustert, sogar die blutverschmierten Haare und Fingernägel hatte er genauer betrachtet. Auch das Zeichen hatte er sich nochmals angesehen. Erst jetzt schien er sich wieder für das Gespräch zu interessieren.
»Welches Versteck?«
Franz Strasser zuckte mit den Schultern.
»Das hab ich doch dem Medicus schon erzählt«, murmelte er. »Irgendwo im Wald. Muss wohl eine Höhle oderso sein. Er war immer ganz dreckverschmiert, wenn er zurückkam. «
Noch einmal betrachtete der Henker die totenstarren Finger des Jungen.
»Was meinst du mit dreckverschmiert?«, fragte er nach. »Na, halt so lehmig. Sah aus, als wär er irgendwo herumgekrochen ...«
Jakob Kuisl schloss die Augen. »Kreuz Kruzifix, ich vernagelter Trottel«, murmelte er. »So klar, und ich hab’s nicht gesehen.«
»Was ... was ist?«, flüsterte Simon, der neben ihm stand und als Einziger den Fluch des Henkers gehört hatte. »Was habt Ihr nicht gesehen?«
Jakob Kuisl packte den Medicus am Arm und zog ihn von der Menge weg. »Ich ... bin mir noch nicht ganz sicher«, sagte er. »Aber ich glaub, ich weiß jetzt, wo das Versteck der Kinder ist.«
»Wo? « Simons Herz schlug schneller.
»Wir müssen erst noch etwas überprüfen«, flüsterte der Henker, während er eilig auf der Straße Richtung Schongau schritt. »Aber dafür müssen wir warten, bis es Nacht wird.«
»Sagt den hohen Herren, wir schauen nicht mehr lange zu! Die Hex muss brennen!«, schrie Franz Strasser ihnen hinterher. »Und diese rote Sophie, die suchen wir uns selber im Wald. Mit Gottes Hilfe werden wir dieses Versteck finden, und dann räuchern wir es aus, das Hexennest!«
Johlen und Beifall waren zu hören. Darüber ertönte die dünne Stimme des Pfarrers, der ein lateinisches Lied intonierte, das in Wortfetzen zu ihnen hinüberdrang.
»Dies irae, dies illa. Solvet saeclum in favilla ... «
Simon biss sich auf die Lippen. Die Tage des Zorns waren tatsächlich nicht mehr fern.
Gerichtsschreiber Johann Lechner blies Sand über das soeben Geschriebene und rollte die Pergamentrolle zusammen. Mit einem Nicken bedeutete er dem Büttel, die Türe der Kleinen Stube zu öffnen. Im Aufstehen wandte er sich noch einmal an den Augsburger Rottführer.
»Solltet Ihr die Wahrheit gesagt haben, habt Ihr nichts zu befürchten. Die Schlägerei interessiert uns nicht ... jedenfalls jetzt noch nicht«, fügte er hinzu. »Wir wollen nur wissen, wer den Stadl angezündet hat. «
Martin Hueber nickte, ohne aufzublicken. Sein Kopf hing über dem Tisch, die Haut war fahl und blass. Eine Nacht allein im Karzer und dazu die Vorstellung einer möglichen Folter hatten ausgereicht, den einst so hochmütigen Rottführer in ein Häufchen Elend zu verwandeln.
Johann Lechner lächelte.
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