Die Herren der Unterwelt 01 - Schwarze Nacht
unwillkürlich die Hände nach ihm aus. Sie sehnte sich nach dem prickelnden Hautkontakt, ja, ja. Sie brauchte ihn … brauchte ihn …
Er schüttelte entschieden den Kopf. Die Heiterkeit war verschwunden. Wütend auf ihn und auf sich selbst, verharrte sie in ihrer Bewegung.
„Es gibt da etwas, das ich tun muss, bevor du mich berühren darfst.“ Seine Stimme war so heiser und leise, dass sie einem zärtlichen Streicheln gleichkam.
„Und was?“ Sie biss sich auf die Unterlippe, als sich der violette Schimmer wieder über seine schwarzen Augen legte. Ganz langsam vom Zentrum der Pupille bis nach außen. Faszinierend.
„Das spielt keine Rolle.“ Er zog die Augenbrauen hoch und streckte die Hand aus, als wollte er ihre Wange streicheln. Genau wie sie wenige Augenblicke zuvor. Dann rief er sich zur Raison und ließ den Arm sinken. „Was hingegen sehr wohl eine Rolle spielt, ist, dass du immer noch nicht auf meine Frage geantwortet hast. Warst du die ganze Nacht in der Zelle?“
Sein berauschender, maskuliner Duft stieg ihr in die Nase, und sie schloss dichter zu ihm auf. Sie versuchte zu widerstehen, ehrlich, das tat sie, doch sie ertappte sich dabei, wie sie sich trotz seiner Warnung zu ihm hinüberbeugte. „Ja.“
Erneut legte sich der Schatten der Wut über sein Gesicht. „Hat man dir zu essen gegeben?“
„Nein.“
„Decken?“
„Nein.“ Was kümmerte ihn das?
„Hat dir jemand wehgetan?“
„Nein.“
„Hat dich jemand … angefasst?“ In seinem Kiefer zuckte ein Muskel, einmal, zweimal.
Sie verzog verwirrt das Gesicht. „Ja. Natürlich.“
„Wer?“, hakte er nach. Sein Gesicht begann mit der unheimlichen Verwandlung. Ein knorriges Skelett blitzte unter seiner Haut auf, als trüge er eine durchsichtige Maske. Auch seine Augen veränderten sich wieder. Erst legte sich Schwarz über Violett, dann Rot über Schwarz. Sie glühten sonderbar.
Erneut bildete sich ein dicker Kloß in ihrem Hals. Das Atmen fiel ihr schwer. Nicht mal im Wald oder während er an ein Bett gekettet und von einem Schwert durchbohrt worden war, hatte er so wild und böse ausgesehen.
Wieso stehst du noch hier? Lauf weg!
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Lass es“, forderte er sie auf und bestätigte damit ihre Angst. „Du würdest mich nur noch zorniger machen. Das hier geht gleich vorbei. Und jetzt sag mir, wer dich angefasst hat.“
„Sie alle“, brachte sie mühsam hervor. „Glaube ich. Aber es ging ja nicht anders“, fügte sie rasch hinzu. Sie konnte kaum glauben, dass sie gerade seine Mörder verteidigte, doch sie hatte das Gefühl, dass sie ihn so am schnellsten beruhigen konnte. „Anders hätten sie mich ja nicht in die Zelle bringen können.“
Er entspannte sich ein wenig. Der Totenschädel wich aus seinem Gesicht, und das rote Glühen verschwand aus seinen Augen. „Sie waren nicht … zudringlich?“
Sie schüttelte den Kopf und spürte, dass auch sie sich leicht entspannte. Er war also wütend auf die Männer gewesen und nicht auf sie, weil sie sich gewehrt hatte.
„Dann werde ich sie am Leben lassen. Gerade noch mal Glück gehabt.“ Für einen Augenblick brach er seine eigenen Regeln und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände.
Sie spürte wieder das elektrische Kribbeln, als sein warmer Atem über ihre Nase strich. Er war so groß, dass sie sich neben ihm wie eine Zwergin vorkam, und seine Schultern waren so breit, dass sie ihren Köper förmlich umhüllten.
„Ashlyn“, flüsterte er zärtlich.
Die rasche Verwandlung von der wilden Bestie zum besorgten Gentleman war atemberaubend.
„Eigentlich wollte ich das nicht hier besprechen, aber ich muss deine Antwort sofort hören.“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause, während er sie intensiv ansah. „Ich habe gestern Nacht die vier Männer getötet, die dir gefolgt sind.“
„Mir gefolgt?“ Hatte sie jemand aus dem Institut gesehen und war ihr nachgegangen? Hatten sie … Endlich begriff sie die Bedeutung seiner restlichen Worte. Sie keuchte, als es sie wie ein Schlag durchfuhr. „Du hast sie getötet?“
„Ja.“
„Wie sahen sie aus?“, stieß sie hervor. Wenn Dr. McIntosh ihretwegen ermordet worden war … Sie presste die Lippen aufeinander, um ein Stöhnen zu unterdrücken.
Maddox beschrieb die Männer – große starke Kämpfer –, und allmählich wich die Anspannung aus ihren Muskeln. Die meisten Mitarbeiter, denen sie im Institut begegnet war, waren älter, wie McIntosh.
Weitere Kostenlose Bücher