Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
Wort riss Gwen aus den Gedanken. Was hatte er gefragt? Ach ja, ob sie versuchen würde, ihn und seine Freunde umzubringen. Sie befeuchtete sich die Lippen und schüttelte den Kopf. Wenn ihre Bestie das Ruder übernahm, würde sie es nicht nur versuchen. Sie würde es schaffen. Ich habe die Kontrolle. Größtenteils. Ihnen wird nichts geschehen.
„Dachte ich auch nicht.“ Mit einer flinken Bewegung legte Sabin den Stein in die richtige Position.
Gwens Herz hämmerte so hart in ihrer Brust, dass sie fast glaubte, es müsste ihr die Rippen brechen. Langsam hob sich das Glas … hob sich weiter … gleich … gleich … Und dann war zwischen ihr und Sabin nichts als die pure Luft. Der Duft von Zitrone und Minze wurde intensiver. Die Kälte, an die Gwen sich mit der Zeit gewöhnt hatte, wich einer Decke aus Wärme, die sich um ihren Körper zu legen schien.
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Frei. Sie war wirklich frei.
Sabin atmete scharf ein. „Meine Götter. Du bist unglaublich.“
Sie ertappte sich dabei, wie sie auf ihn zuging und einen Arm ausstreckte. Sie sehnte sich nach dem Hautkontakt, der ihr all die Monate verwehrt worden war. Eine einzige Berührung war alles, was sie brauchte. Und dann würde sie nach Hause gehen. Endlich.
Nach Hause.
„Nutte!“, schrie Chris, der versuchte, sich aus Cameos Griff zu befreien. „Bleib weg von mir. Haltet sie von mir fern. Sie ist ein Ungeheuer!“
Unvermittelt blieb sie stehen, und ihr Blick wanderte zu dem erbärmlichen Menschen, der für all das Leid und die Qual verantwortlich war, die sie während des vergangenen Jahres erlitten hatte. Ganz zu schweigen davon, was er ihren Mitgefangenen angetan hatte. Ihre Fingernägel verwandelten sich in messerscharfe Krallen. Kleine, scheinbar hauchdünne Flügel entfalteten sich auf ihrem Rücken, zerrissen dabei den Baumwollstoff ihres Tops und flatterten wild. Das Blut in ihren Adern verdünnte sich, raste durch jeden Teil ihres Körpers, schnell, so schnell, und ihr Blick wurde zum Infrarotblick – sämtliche Farben verschwanden, sie sah nur noch die Wärme von Körpern.
In dem Augenblick wurde ihr klar, dass sie ihre Bestie – ihre dunkle Seite – nicht einmal im Ansatz unter Kontrolle gehabt hatte. Sie hatte sich die ganze Zeit in ihr gewunden und nur so lange stillgehalten, bis sie die Möglichkeit zum Angriff hatte …
Nur Chris, nur Chris, bitte, Götter, nur Chris. Dieses Mantra wiederholte sie immer und immer wieder im Geiste, auf dass es den Blutrausch ihrer rachedurstigen Bestie linderte. Nur Chris, lass alle anderen am Leben, greif nur Chris an.
Doch tief in sich wusste sie, dass die Zahl der Todesopfer längst feststand.
3. KAPITEL
V on dem Moment an, als Sabin die niedliche Rothaarige in der gläsernen Zelle gesehen hatte, war er unfähig gewesen, den Blick von ihr abzuwenden. Unfähig zu atmen, unfähig zu denken. Ihre langen Haare waren üppig gelockt. Zwischen dicken rubinroten Locken lugten mehrere blonde hervor. Ihre Augenbrauen waren von einem dunklen Kastanienbraun, aber ebenso schön. Sie hatte eine Stupsnase, und ihre Wangen waren so rund wie die eines Engels. Aber ihre Augen … die waren ein Fest für die Sinne: bernsteinfarben mit grauen funkelnden Ringen. Hypnotisierend. Ringsherum bildeten schwarze Wimpern einen dekadenten Rahmen.
Halogenlampen hingen von Haken an den Wänden und tauchten sie in helles Licht. Während es bei anderen ihre Makel enthüllt hätte, brachte es bei ihr nicht nur den Schmutz zum Vorschein, der ihre Haut in Streifen überzog, sondern verlieh ihr einen gesunden Glanz. Sie war zierlich, hatte kleine, runde Brüste, eine schmale Hüfte und Beine, die lang genug waren, um sie um ihn zu schlingen und sich so während der turbulentesten Ritte festzuhalten.
Hör auf so zu denken. Du weißt es doch besser. Ja, allerdings. Seine letzte Geliebte, Darla, hatte sich das Leben genommen. Und er hatte sich geschworen, nie wieder eine Beziehung einzugehen. Aber zu der Rothaarigen hatte er sich augenblicklich hingezogen gefühlt. Genau wie sein Dämon, auch wenn Zweifel sie aus einem anderen Grund wollte. Er hatte ihre Beklemmung gespürt und zielgerichtet versucht, in ihren Kopf zu gelangen, um sich an ihren tiefsten Ängsten zu weiden.
Aber sie war kein Mensch, das hatten sie beide schnell gemerkt, und aus dem Grund gelang es Zweifel nicht, ihre Gedanken zu hören, solange sie sie nicht artikulierte. Das hieß jedoch nicht, dass sie vor ihm sicher war. Oh
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