Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
hätten sie es nicht mehrfach übersehen dürfen. Deshalb stellte Gideon sich die Frage, ob hier noch etwas anderes im Gang war, etwas anderes als seine „Vielleichts“. Etwas wie Zauberei.
Womöglich ein Schutzzauber? Er hatte in seinem Leben schon ein paar Hexen kennengelernt und wusste, dass sie sehr mächtig waren. Aber warum sich eine dafür entscheiden sollte, mit den Jägern zusammenzuarbeiten, war ihm ein Rätsel.
Schließlich waren sie auf die brillante Idee gekommen, Luciens Geist hier draußen allein zurückzulassen, um darauf zu warten, dass ihm ein Jäger über den Weg lief. Daraus hatte sich eine weitere Verzögerung ergeben: Da Jäger nicht so leicht zu erkennen waren – sie trugen unauffällige Kleidung und versteckte Waffen –, war Lucien vielen harmlosen Menschen gefolgt. Aber schließlich hatten sich seine Bemühungen ausgezahlt, als er einen wahrscheinlichen Kandidaten erspäht hatte, der in ein Gebäude geschlichen war, das niemandem von ihnen aufgefallen war – oder falls doch, erinnerten sie sich nicht daran. Lucien hatte das Gebäude mit einer kleinen Blutspur markiert, denn die konnte Anya sogar mit geschlossenen Augen aufspüren.
Nun saßen sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einer Baustelle versteckt und blickten zwischen dicken Holzbalken hindurch, während hinter ihnen die Arbeiter hin und her eilten. Ein paar Leute waren so mutig gewesen, sie zum Gehen aufzufordern. Aber ein mit Rosenduft unterlegter hypnotischer Blick aus Luciens verschiedenfarbigen Augen hatte genügt, und die Arbeiter hatten vergessen, dass sie sich überhaupt hier aufhielten. Gideon hätte schreien können, sie hätten nicht einmal mit der Wimper gezuckt.
Gideon wollte auch solche Macht besitzen. Oder vielleicht die Superwut von Maddox, der die Welt in kleine Stücke zerreißen konnte, nur weil er genervt war. Vielleicht auch die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, wie Amun sie besaß. Oder jeden Schnitt, jeden Hieb, jede Verletzung zu genießen, so wie Reyes es tat. Oder sogar wie ein Tier Sex zu haben wie Paris. Oder zu fliegen wie Aeron. Oder alles zu gewinnen wie Strieder. Oder – er fand bei jedem Krieger etwas, um das er ihn beneidete. Sogar bei Cameo, dem Inbegriff des Elends. Sie war in der Lage, allein durchs Reden einen Raum zu räumen. Sie konnte erwachsene Männer dazu bewegen, schluchzend wie Babys auf die Knie zu sinken.
Und was konnte Gideon? Er konnte lügen, sonst nichts. Und das nervte wie Sau. (Das war übrigens keine Lüge.) Er konnte keiner Frau sagen, dass sie hübsch war, wenn sie nicht hässlich war. Er konnte seinen Freunden nicht sagen, dass er sie liebte. Er konnte den Jägern nicht sagen, dass sie Abschaum waren. Er musste ihnen sagen, dass sie Goldstücke waren. Ein echter Albtraum. Apropos Albtraum – den musste er natürlich die Erfüllung eines Traumes nennen.
Und trotz allem tat ihm nicht leid, dass er zum Leben eines dämonenbesessenen Kriegers verdammt war. Er trug es mit Stolz, als wäre es eine Auszeichnung. Er hätte gern so getan, als ob es ihn anwiderte, was er – abgesehen von Sabin und Strider – mit den anderen gemeinsam gehabt hätte. Aber er belog sich niemals selbst.
Manchmal dachte er, er wäre der einzige Krieger, der seinen Fluch positiv bewertete. Es war nicht schlimm, einen Dämon in sich zu haben. Es war auch nicht schlimm, sich an ihm zu erfreuen und froh zu sein, weil man nicht allein war – außer dass sein Dämon, im Gegensatz zu allen anderen, nie mit ihm sprach. Nein, sein Dämon war vielmehr ein … immer präsenter Schatten in seinem Hinterkopf. Es war nicht falsch, froh zu sein, weil man mächtiger war. Aber, verflucht noch mal, hätte es die Götter vielleicht umgebracht, ihm Wut oder Albtraum zuzuteilen? Also, Albtraum wäre wirklich ziemlich cool. Über die Fähigkeit zu verfügen, die Albträume der Jäger wahr werden zu lassen, das wäre der Himmel auf Erden.
Plötzlich bohrte sich ein Stich der Sehnsucht durch seinen Körper, und Gideon blinzelte überrascht. Sehnsucht? Wonach? Nach der Fähigkeit? Oder nach dem Dämon an sich?
Gideon verdrängte das seltsame Gefühl. Er wusste nicht einmal, ob Albtraum überhaupt in der Büchse gewesen war – noch ein Stich.
„Wir beobachten das Haus nun schon seit über einer Stunde, unser unfreiwilliger Lockvogel ist schon längst wieder mit leeren Händen verschwunden, und sonst hat sich nichts geregt. Ich denke, es steht leer“, sagte Anya, und ihr Ton war leicht verwirrt, was bei
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