Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
ihr nur höchst selten vorkam. „Aber ich spüre Chaos. Und zwar ein verdammt großes Chaos.“ Das Chaos war ihre stärkste Machtquelle. Wenn es alsoirgendjemanden gab, der es erkannte, dann diese schöne Göttin.
„Können wohl keine Hexen und ihre Zaubersprüche sein“, sagte Gideon.
Anya japste. „Hexen. Natürlich. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? In all den Jahren hatte ich ungefähr ein-bis zweitausendmal Ärger mit ihnen. Sie sind die Machtschänder schlechthin“, murmelte sie. „Mal sehen, wie es ihnen gefällt, wenn ich meine Macht missbrauche und aus ihren schwarzen Herzen ein neues Mittelstück für unseren Tisch mache.“
„Vielleicht sollte ich meinen Geist reinschicken“, schlug Lucien vor. Er wäre für alle unsichtbar und könnte sich die Räume in Ruhe ansehen, ohne Angst haben zu müssen, entdeckt zu werden.
„Nein. Das Thema hatten wir doch schon“, widersprach Anya entschlossen. Sie schüttelte den Kopf. Gideon, der rechts neben ihr stand, spürte, wie ihre seidigen Haare ihn streiften. „Irgendetwas ist faul mit dem Gebäude, und ich will nicht mal, dass dein Geist da reingeht. Erst recht nicht, wenn womöglich Hexen im Spiel sind …“
Gideon betete Frauen an, und bei der Berührung des Haars stieg seine Temperatur um ein paar Grad. Das letzte Mal war er nur wenige Stunden nach seiner Rückkehr aus Ägypten mit einer Frau zusammen gewesen. Bis zu einem gewissen Grad wussten die Frauen aus Budapest, dass er und die anderen Herren anders waren. Sie betrachteten sie als „Engel“. Er hatte nichts sagen, sondern nur seinen Finger krümmen müssen, und schon war diese eine zu ihm gelaufen. Doch sie hatte nicht genügt, um seinen inneren Schmerz zu lindern. Sie waren nie genug.
„Dann lasst uns mal weiter nichtstuend hier herumstehen“, sagte er. Was hieß: Lasst uns das Haus mit rauchenden Pistolen stürmen. Und seine Freunde wussten es. Was seine Wortwahl betraf, waren sie sehr versiert. Und das war auch dringend nötig.
Wenn er auch nur versuchte, irgendein wahres Wort von sich zu geben, durchzuckte ihn ein schier unerträglicher Schmerz. Ein Schmerz, der stärker war, als man es jemandem zumuten sollte. Es war schmerzhaft wie Messer, die in Säure getaucht, mit Salz paniert und mit Gift beträufelt waren, bevor man sie ihm in den Bauch stach und dann in mehreren Runden bis zum Gehirn und zurück zu seinen Füßen zog.
„Wir haben vor Kurzem keinen Bombenangriff überlebt“, fügte er hinzu, weil sie natürlich einen überlebt hatten. Seit der Explosion, auf die er anspielte, waren erst wenige Monate vergangen. Und er erinnerte sich noch lebhaft an den Schrecken und den Schmerz. Doch Gideon war gewillt, es noch einmal zu ertragen. Es war schon viel zu lange her, seit er seinem Feind das Messer ins Fleisch gebohrt hatte oder ihn mit seinen Pistolenkugeln hatte tanzen lassen. Er konnte sich vor Tatendrang kaum halten. „Also können wir auf keinen Fall etwas anderes überleben, das sie uns zwischen die Beine werfen. Nicht mal Zaubersprüche.“
Gideon war der lebende Beweis dafür, dass die Herren nicht nur eine Menge Mist überleben konnten, sondern dabei auch noch lächelten. Einmal hatten die Jäger es geschafft, ihn zu fangen und einzusperren. Die nächsten drei Monate seines Lebens waren die reine Folter gewesen. Wortwörtlich. Er hätte lieber in der Hölle geschmort, als die Schläge, Elektroschocks und Stockhiebe auszuhalten, mit denen sie ihn zur Schwelle des Todes getrieben hatten, nur um ihn dann wiederzubeleben und aufs Neue auf ihn einzuschlagen.
Sabin hatte ihn gefunden und gerettet, indem er ihn sich wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter gelegt hatte. Gideon war nicht mehr in der Lage gewesen zu gehen. Sie hatten ihm einfach die Füße abgeschlagen, um ihnen beim Nachwachsen zuzusehen. Vielleicht liebte Gideon den Krieger deshalb so sehr und hätte alles für ihn getan. Ein paar Jäger bringe ich nur für ihn um. Dass Sabin nicht hier war, obwohl er doch für diese Kämpfe lebte …
Daran war bestimmt die Harpyie schuld. Noch nie war Sabin von einer Frau derart besessen gewesen, dass er sich mit ihr eingeschlossen und seine Pflichten vernachlässigt hatte. Zwar freute sich Gideon für seinen Freund, weil er jemanden gefunden hatte, aber er war sich nicht sicher, was das für ihren Krieg bedeutete.
„Ich habe eine Idee“, sagte Strider. Strider hatte immer Ideen. Da der Sieg für sein Wohlergehen notwendig war, verbrachte er oft
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