Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
nach sich zog, wie vor den Forderungen, mit denen die Männer womöglich aufwarten würden, damit sie sich ein paar kostbare Bissen verdienen konnte.
„Sicher?“, hakte er nach, bevor er sich noch mehr Bonbons in den Mund warf. „Die hier sind zwar klein, aber sie brennen wie die Hölle.“ Von allen Männern ging er am sanftesten mit ihr um. Ihm lag ihr Wohlergehen besonders am Herzen. Seine strahlend blauen Augen sahen sie niemals geringschätzig an – oder wütend, so wie Sabins manchmal.
Sabin. Immer kehrten ihre Gedanken zu ihm zurück.
Unwillkürlich sah sie zu ihm. Er lag auf dem Sofa ihr gegenüber, hatte die Augen geschlossen, und seine Wimpern warfen spitze Schatten auf seine scharf konturierten Wangen. Er trug einen Tarnanzug, eine silberne Kette um den Hals und ein ledernes Herrenarmband. Gwen war sich sehr sicher, dass er auf den Zusatz „Herren“ großen Wert legen würde. Seine Gesichtszüge waren schläfrig entspannt. Wie konnte jemand nur zugleich so jungenhaft und so unbarmherzig aussehen?
Das war ein Rätsel, das sie lösen wollte. Wenn es ihr gelang, würde sie vielleicht endlich aufhören, immer wieder nach ihm zu suchen. Denn es vergingen keine fünf Minuten, ohne dass sie sich fragte, wo er war und was er tat. Am Morgen hatte er seine Sachen gepackt und letzte Reisevorbereitungen getroffen, während sie sich ausgemalt hatte, wie sie ihre Fingernägel in seinen Rücken bohrte und ihn in den Hals biss. Nicht um ihn zu verletzen, sondern um sich zu beglücken!
Sie hatte über die Jahre schon den einen oder anderen Liebhaber gehabt, aber solche Gedanken hatten sie noch nie geplagt. Sie war ein sanftes Geschöpf, verdammt noch mal, sogar im Bett. Es lag an ihm. Seine Mir-ist-alles-egal-außer-wie-ich-meinen-Krieg-gewinne-Einstellung rief diese … Finsternis in ihr hervor. Ja, so musste es sein.
Was er getan hatte, hätte sie anwidern müssen – einem Menschen einfach die Kehle durchzuschneiden … Zumindest hätte sie ihn anschreien sollen, damit er aufhörte; sie hätte protestieren sollen. Doch ein Teil von ihr – diese finstere Seite, das Ungeheuer, dem sie nicht entfliehen konnte – hatte genau gewusst, was passieren würde, und war froh darüber gewesen. Sie hatte gewollt, dass der Mensch starb. Selbst jetzt noch verspürte sie einen Funken Dankbarkeit Sabin gegenüber. Für die wunderbar grausame Art, auf die er für Gerechtigkeit gesorgt hatte.
Das war der einzige Grund gewesen, aus dem sie freiwillig in dieses Flugzeug gestiegen war. Ein Flugzeug, das nicht nach Alaska flog, sondern nach Budapest. Das und die respektvolle Distanz, die die Krieger zu ihr hielten. Ach ja, und diese köstlichen Küchlein – auch wenn Gwen der süßen Versuchung nicht noch einmal erliegen wollte.
Aber vielleicht sollte sie genau das tun. Vielleicht sollte sie sich wie eine erwachsene Frau benehmen, einfach eins stehlen und das Risiko einer Bestrafung in Kauf nehmen. Ihre Fähigkeiten waren zwar etwas eingerostet, aber nun, da sie nicht mehr in ihrer Zelle saß, schmerzte der Hunger schier unerträglich, und körperlich wurde sie zusehends schwächer. Und selbst wenn die Krieger sie verletzten, hätte das ein Gutes. Denn dann würde Gwen endlich aktiv werden und nach Hause fliegen.
Allerdings musste sie sich schnell entscheiden. Schon bald hätte sie nicht mehr die Kraft und die geistige Klarheit, sich ein Häppchen zu stehlen – geschweige denn eine komplette Mahlzeit –, und sie hätte definitiv nicht mehr die Kraft fortzugehen. Das machte das Ganze noch schlimmer: Sie musste nicht nur gegen den Hunger kämpfen, sondern auch gegen die Lethargie.
Sie war nicht etwa dazu verflucht, für immer wach zu bleiben oder so, aber vor anderen zu schlafen verstieß gegen den Verhaltenskodex der Harpyien. Und zwar aus gutem Grund! Im Schlaf war man verwundbar, das perfekte Ziel für einen Angriff, oder besser gesagt für eine Entführung. Ihre Schwestern hielten sich nicht an viele Regeln, jedoch hatten sie nie gegen diese verstoßen. Und Gwen wollte es auch nicht tun. Nicht noch mal. Sie hatte ihrer Familie schon genug Schande bereitet.
Doch ohne Nahrung und Schlaf ging es mit ihrer Gesundheit weiterhin bergab. Es würde nicht mehr lange dauern, und die Harpyie würde das Kommando übernehmen, wild entschlossen, sie zum Wohlbefinden zu zwingen.
Die Harpyie. Obwohl sie in ein und demselben Körper lebten, betrachtete Gwen sie als einzelnes Wesen. Die Harpyie tötete gern, sie nicht. Die Harpyie
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