Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
Gesichtsausdruck gesehen, denn er nickte. „Ich glaube, ich habe es schon mal gesagt, aber nach dem bisschen, was ich über Harpyien weiß, sind es hässliche Kreaturen mit missgestalteten Gesichtern und scharfen Schnäbeln. Und die untere Hälfte ihres Körpers sieht aus wie bei einem Vogel. Sie sind boshaft und unbarmherzig. Aber du … bist nichts von alledem.“
Hatte er schon vergessen, was sie mit Chris gemacht hatte?
Sie sah zu Sabin, der sich nicht gerührt hatte. Er atmete tief und gleichmäßig, und sein Zitronen-Minze-Duft drang zu ihr herüber. Hatte er Strider nicht daran erinnert, dass nicht alle Legenden zwingend wahr waren? „Wir haben einen schlechten Ruf, das ist alles.“
„Nein, dahinter steckt mehr.“
Für sie, ja. Aber das konnte sie ihm ja schlecht sagen. Ihre Schwestern – die Glücklichen – hatten Gestaltwandler als Väter. Taliyahs Vater war eine Schlange, und der Vater der Zwillinge ein Phoenix. Ihrer hingegen war ein Engel – eine Tatsache, über die sie nicht sprechen durfte. Niemals. Engel waren zu rein, zu gut für ihre Art, um respektiert zu werden, und Gwen hatte schon genügend Schwächen. Wie immer, wenn sie an ihren Vater dachte, legte sie sich die Hand flach aufs Herz.
Obwohl die Harpyien eine matriarchalische Gesellschaft waren, war es den Vätern gestattet, ihre Kinder zu sehen. Die Väter ihrer Schwestern hatten sich entschieden, am Leben ihrer Töchter teilzuhaben. Gwens Vater hatte erst gar nicht die Chance dazu bekommen. Ihre Mutter hatte es ihm untersagt. Sie hatte Gwen gerade mal seine markantesten Wesenszüge aufgezählt – als Warnung davor, wie sie werden würde, wenn sie sich nicht vorsah. Dann wäre sie zu moralisch, um sich ihr Essen zu stehlen, unfähig zu lügen und mehr um das Wohl anderer besorgt als um das eigene. Doch selbst nachdem Tabitha sich von Gwen losgesagt hatte, indem sie sie einen „hoffnungslosen Fall“ genannt hatte, hatte Gwens Vater nicht versucht, mit ihr in Kontakt zu treten. Wusste er überhaupt, dass es sie gab? Ein Gefühl der Sehnsucht überkam Gwen.
Ihr gesamtes Leben über hatte sie von ihrem Vater geträumt, der alles und jeden niederkämpfte, um zu ihr zu gelangen; um sie in seine Arme zu schließen und mit ihr davonzufliegen. Es waren Träume von seiner Liebe und Zuwendung. Träume von einem Leben bei ihm im Himmel, für immer und ewig beschützt vor dem Bösen der Welt und der eigenen dunklen Seite.
Sie seufzte. Wenn von ihrer Art die Rede war, wurde immer nur ein Name erwähnt: Luzifer. Er war stark, verschlagen, brutal – kurzum, ein Feind, den sich niemand wünschte. Die Leute legten sich nicht so schnell mit ihr oder den anderen an, wenn sie glaubten, der Prinz der Dunkelheit würde seine Waffen auf sie richten.
Und um ehrlich zu sein, wenn sie ihn zu ihrer Familie zählte, log sie nicht einmal. Luzifer war ihr Urgroßvater. Der Großvater ihrer Mutter. Gwen war ihm nie begegnet, denn sein Jahr auf der Erde war lange vor ihrer Geburt beendet gewesen, und sie hoffte inständig, dass sie einander nie über den Weg liefen. Allein der Gedanke daran jagte ihr Schauer über den Rücken.
Während sie sorgfältig ihre nächsten Worte wählte, atmete sie tief ein und nahm dabei Striders Holzrauch-Aroma sowie den köstlichen Zimtduft auf. Traurigerweise reichte er nicht im Ansatz an Sabins Duft heran. „Menschen verpassen allem, was sie nicht verstehen können, eine negative Assoziation“, meinte sie. „In ihrer Vorstellung siegt das Gute immer über das Böse. Deshalb ist alles, was stärker ist als sie, böse. Und natürlich ist das Böse hässlich.“
„Wie wahr.“ Sein Ton klang überaus verständnisvoll.
Der Zeitpunkt ist genauso gut oder schlecht wie jeder andere, um herauszufinden, was genau er versteht, dachte sie. „Ich weiß, dass du unsterblich bist, so wie ich“, begann sie, „aber mir ist noch nicht ganz klar, was du eigentlich bist.“
Er rutschte unruhig auf seinem Sessel herum und warf seinen Freunden Hilfe suchende Blicke zu. Jeder, der zugehört hatte, sah schnell weg. Strider seufzte, ein Echo ihres Seufzers von vor wenigen Minuten. „Früher waren wir Gotteskrieger.“
Früher, aber jetzt nicht mehr. „Aber was …“
„Wie alt bist du?“, fiel er ihr ins Wort.
Gwen hätte gern gegen den abrupten Themenwechsel protestiert. Doch feige, wie sie war, überlegte sie stattdessen, was dafür-und was dagegen sprach, die Wahrheit zu sagen. Sie stellte sich die drei Fragen, die jede
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