Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
recht behalten. Ein verheirateter Professor hatte versucht, sich ihr anzunähern, sonst nichts, und trotzdem war sie auf ihn losgegangen, als hätte er ihr die Kehle durchschneiden wollen. Gwens dritte Woche auf dem College war ihre letzte gewesen.
Ihre Schwestern behaupteten, die Harpyie wäre nicht so unberechenbar, wenn Gwen aufhören würde, ihr eigenes Wesen zu bekämpfen, doch sie glaubte ihnen nicht. Sie waren ein Haufen blutdurstiger Weiber, die permanent kämpften und mit einer Todesopferzahl aufwarten konnten, bei der Gwen schwindelig wurde. Sie liebte sie, aber obwohl sie sie um ihr Selbstbewusstsein und ihre Stärke beneidete, wollte sie nicht mit ihnen tauschen. Meistens jedenfalls.
Noch ein qualvoller Schrei.
Um sich abzulenken, erkundete sie das Schlafzimmer, knackte das Schloss der Waffentruhe, steckte einige der Wurfsterne ein, die Sabin dort versteckt hatte, und gähnte dabei nur dreimal – ein Fortschritt. Es gab Dinge, die man nie verlernte. Und sich unbefugten Zugang zu einer Sache oder einem Ort zu verschaffen, das war ein hoher Wert in ihrer Familie. Das hätte ich schon viel eher machen sollen. Sie knackte auch das Türschloss und schlich auf den Flur – nur um sich sofort wieder ins Schlafzimmer zurückzuziehen, als sie Schritte hörte.
Warum bin ich bloß so ein elender Feigling?
Noch ein Schrei. Dieser erstickte in einem Gurgeln.
Zitternd und abermals gähnend sank Gwen auf die Matratze und zwang sich, sich nicht auf das zu konzentrieren, was sie hörte, sondern darauf, was sie um sich herum sah. Das Zimmer war eine Überraschung. Hart und maskulin, wie Sabin nun mal war, hatte sie eine spärliche Möblierung, dominierende Schwarz-und Brauntöne und keinerlei persönliche Gegenstände erwartet. Und oberflächlich betrachtet sah der Raum auch ihren Erwartungen entsprechend aus.
Doch unter der dunkelbraunen Tagesdecke blitzten lebhaft blaue Bettwäsche und eine Feder-Matratzenauflage hervor. In seinem Schrank hing eine stolze Anzahl lustiger T-Shirts. Fluch der Karibik. Ist ja fast wie Hello Kitty, dachte Gwen. Auf einem stand „Willkommen auf dem Waffenbasar“, und mehrere Pfeile zeigten in Richtung Bizeps. Hinter einem Schleier aus üppigen Pflanzen befand sich ein Sitzbereich, wo Sabin Kissen auf dem Boden ausgelegt hatte, von denen aus man direkt auf ein Deckengemälde blicken konnte, das mehrere Burgen in den Wolken zeigte.
Dass er so widersprüchliche Seiten hatte, gefiel ihr. Wie der harte und doch jungenhafte Ausdruck in seinem Gesicht.
„Hallo, hallo, hallo“, erklang eine Frauenstimme. Die Tür, die sie eben erst geschlossen hatte, flog auf, und eine große, atemberaubend attraktive Frau kam herein. Sie balancierte ein Tablett voller Essen auf den Händen. Dem Geruch nach zu urteilen, der plötzlich die Luft erfüllte, lagen auf dem Teller ein Schinkensandwich sowie eine Handvoll Kartoffelchips, eine Schale Weintrauben und ein Glas … Gwen konzentrierte sich auf den Duft … Cranberry-Saft.
Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht war es ihr starker Hunger oder der Schlafmangel, doch das Erscheinen des Eindringlings beunruhigte sie nicht im Geringsten. „W-was hast du denn da?“
„Vergiss das Essen“, erwiderte die Fremde, während sie das Tablett auf die Anrichte stellte. „Das ist für Sabin. Der Kniich hat mich ausgetrickst, und ich musste ihm was zu essen machen. Er hat mir gesagt, du würdest sowieso nichts anrühren. Tut mir leid.“
„Ach, kein Problem.“ Ihre Zunge war so stark geschwollen, dass sie kaum sprechen konnte. „Wer bist du?“ Gwen konnte den Blick nicht von dem Tablett abwenden.
„Ich bin Anya, die Göttin der Anarchie.“
Gwen hatte keinen Anlass, daran zu zweifeln. Die Frau strahlte eine überirdische Macht aus, die förmlich Funken sprühte. Aber was machte eine Göttin bei den Dämonen? „Ich…“
„Ach, Papperlapapp. Entschuldigst du mich einen Moment? Lucien – das ist mein Mann, also Finger weg – ruft nach mir. Rühr dich nicht von der Stelle, ja? Ich bin gleich wieder da.“
Gwen hatte zwar nichts gehört, doch sie protestierte nicht. Kaum hatte sich die Tür hinter der Göttin geschlossen, stand Gwen auch schon an der Anrichte und stopfte sich Sabins Sandwich in den Mund, spülte es mit dem Saft herunter, schnappte sich dann die Chips und die Weintrauben. Sie verschlang sie, als hätte sie nie zuvor etwas so Exquisites gekostet.
Vielleicht hatte sie das ja auch nicht.
Es war, als hätte sie einen
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