Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
Regenbogen im Mund. Es war eine Melange aus Aromen, Konsistenzen und Temperaturen. Ihr Magen hieß jeden Bissen gierig willkommen und bettelte um mehr dieser gestohlenen Köstlichkeiten.
Anya war nur eine Minute weg oder vielleicht zwei, doch als sie zurück ins Zimmer kam, war das Tablett leer, und Gwen saß auf dem Bett, wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab und schluckte den letzten Bissen runter.
„Also. Wo waren wir stehen geblieben?“ Ohne auch nur einen Blick auf das Tablett zu werfen, schlenderte Anya zum Bett und setzte sich neben Gwen. „Ach ja. Ich sorge dafür, dass es dir gut geht.“
„Sabin hat mir gesagt, dass er dich herschicken will, aber ich dachte, er hätte seine Meinung geändert. Ich, äh, brauche keinen Leibwächter. Ehrlich nicht.“ Bitte, achte nicht auf das Tablett. „Ich habe nicht vor zu gehen.“
„Ich bitte dich.“ Die schöne Göttin winkte abwehrend. „Wie gesagt, ich bin die Göttin der Anarchie. Als wenn ich mich dazu herabließe, so einen Standpunkt einzunehmen. Außerdem schickt mich niemand irgendwohin, wo ich nicht hinwill. Mir ist einfach nur langweilig, und ich bin neugierig. Eine Frage, die mir durch den Kopf gespukt ist, hat sich zumindest schon beantwortet. Du bist unglaublich hübsch. Allein dieses Haar …“ Sie ließ ein paar Strähnen durch ihre Finger gleiten. „Kein Wunder, dass Sabin dich als seine Frau auserwählt hat.“
Gwen schloss genüsslich die Augen, und ihr Kopf schmiegte sich wie von selbst an die Berührung der Göttin. Die Harpyie war still, eingelullt, zuerst durch das Essen und jetzt durch die Gesellschaft. Nun musste sie nur noch die Burg verlassen, nur für ein paar Stunden, und irgendwo ein Schlafplätzchen finden. „Er hat mich nicht als seine Frau auserwählt.“ Dennoch gefiel ihr allein der Gedanke. Denn ihre Brustwarzen waren steif geworden, und zwischen ihren Beinen war eine Hitze erglüht, die sich wie ein Lauffeuer in ihrem Körper ausbreitete.
„Natürlich bist du Sein.“ Anya ließ den Arm sinken. „Du schläfst in seinem Zimmer.“
Sie öffnete die Augen, und nur mühsam unterdrückte sie ein Wimmern. Warum wollte nur niemand sie länger berühren? „Ich bin hier, weil ich gezwungen werde.“
Anya prustete los, als hätte Gwen einen genialen Witz gemacht. „Der war gut!“
„Im Ernst. Ich habe ihn um ein eigenes Zimmer gebeten, aber er wollte mir keins geben.“
„Als wenn irgendwer in der Lage wäre, eine Harpyie zu zwingen, an einem Ort zu bleiben, an dem sie nicht bleiben will.“
Das traf auf ihre Schwestern zu. Aber auf sie? Eher nicht. Wenigstens war in Anyas Tonfall keine Verachtung mitgeschwungen, als sie das Wort „Harpyie“ ausgesprochen hatte. Es gab so viele Geschöpfe aus sogenannten Mythen und Legenden, die Harpyien als schlechte Wesen sahen – als bloße Mörder und Diebe.
„Glaub mir. Ich bin anders als der Rest meiner Familie.“
„Autsch. Du klingst so angeekelt, als hättest du gerade bei der Folterparty im Kerker vorbeigeschaut. Mögen wir unsere Herkunft oder womöglich uns selbst nicht?“
Gwen blickte auf ihre Hände, die sie auf dem Schoß rang. Konnte die Information gegen sie verwendet werden? Würde es ihr irgendeinen Vorteil verschaffen, wenn sie die Information für sich behielt? Wäre eine Lüge ausreichend, wenn nicht sogar besser?
„Beides“, erwiderte sie schließlich, nachdem sie beschlossen hatte, dass sie ruhig die Wahrheit sagen konnte. Sievermisste ihre Schwestern mehr, als sie sagen konnte. Und hier saß eine Frau, die ihr zuhörte und sich anscheinend für sie interessierte. Unter diesen Umständen war Gwen sogar egal, ob Anya sich wirklich für sie interessierte oder nur so tat. Es tat gut, jemandem ihre Gefühle mitzuteilen. Zum Teufel, es tat gut, zu reden. Zwölf Monate lang hatte ihr niemand zugehört.
Seufzend ließ Anya sich auf die Matratze fallen. „Aber ihr Harpyien seid, wie soll ich sagen, die coolsten Geschöpfe überhaupt. Niemand kann euch hereinlegen und es später herumerzählen – weil er es gar nicht überlebt. Selbst die Götter machen sich in die Hose, wenn ihr auftaucht.“
„Ja, aber es ist unmöglich, Freundschaften zu schließen, weil uns niemand zu nahekommen will. Aber noch schlimmer ist, dass man sein wahres Ich in einer Liebesbeziehung unter keinen Umständen zeigen darf, weil man ja seinen Freund auffressen könnte.“ Gwen ließ sich neben die Göttin fallen, wobei sich ihre Schultern berühren. Sie konnte nicht
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