Die Herren der Zeit
steinerne Sarkophage. Es mussten Hunderte, wenn nicht Tausende sein. Wie stumme, steinerne Wächter standen sie dort, schmucklos bis auf die Namensglyphen derer, die darin ruhten.
Kein Moderhauch herrschte in dieser riesigen Katakombe, sondern klare Luft, ein wenig abgestanden, aber rein.
»Das sind die Sarkophage der Zwerge von Zarakthrôr!«, sagte Burin, und Ehrfurcht schwang in seiner Stimme mit. »So ist es denn wahr: In allen Zeiten ist das Geschlecht der Zwerge dazu verdammt, am Ende zu unterliegen, zu Stein zu werden wie das Gebein der Welt, von dem sie genommen sind.«
Langsam gingen sie weiter. Die Schatten, die in den Nischen lauerten, schienen sich mit ihnen zu bewegen. Wenn das Licht hineinfiel, traten sie aus dem Dunkel hervor; wenn es weiterwanderte, sanken sie wieder in die Schatten zurück.
Sie waren am Ende des langen Mittelganges angelangt. Vor ihnen lag die zweite Tür, rund wie die erste und wie sie von außen durch eine Steinplatte verschlossen. Das Licht brannte jetzt nur noch ganz matt. Doch sein Schein reichte aus, um die letzte der Grabnischen zu erhellen.
Der Sarkophag in der Nische war der größte von allen. Auf der schweren, steinernen Platte, der ihn bedeckte, prangte dasselbe Zeichen, das auch den Eingang von Zarakthrôr geziert hatte: die Glyphe Fregorins.
Burin zog seine Kapuze über den Kopf. »Dann ist er also tot – zu Stein geworden wie alle anderen.«
»Aber wenn er der letzte der Zwerge war«, kam Gilfalas’ klare Stimme aus dem Halbdunkel, »wer hat ihn dann in Stein gelegt?«
»Die Gnome waren es nicht«, erklärte Gwrgi. »Sie hätten das Tor der Halle niemals öffnen können.«
Aldo war sich keineswegs sicher, was die Gnome mit ihren unheimlichen Kräften zuwege brachten und was nicht. Aber Burin schien eine ganz andere Frage zu bewegen.
»Wenn Herr Fregorin hier im Stein liegt«, sagte er langsam, »wer, frage ich mich, sitzt dann auf dem Thron in der Gewölbten Halle von Zarakthrôr?«
Er wandte sich dem Stein zu, der den Eingang der Halle verschloss. Er schien ihn kaum berührt zu haben, als die schwere, kreisrunde Platte auch schon beiseiterollte.
Der Schatten wartete.
Er wartete geduldig. Zeit hatte für ihn keine Bedeutung. So wie er einst bei den Toten gewacht hatte, so wachte er nun hier, an dem dunklen Ort unter dem Berg, wohin kein Licht hinabdrang.
Der Schatten fächerte sich auf in ein halbes Dutzend Gestalten, und mit den verschiedenen Standpunkten, aus denen er die Welt sah, kam im Austausch der Empfindungen ein Wissen um das, worauf er wartete.
Ein Wesen, nackt in der Dunkelheit.
Ein Geist, der sprach: »Ich bin.«
Ein Anderes …
Burin wich zurück.
Vor ihm waren die Schatten. Sie standen in einem Halbkreis, als hätten sie ihn erwartet.
Gebt ihn//gebt es//heraus!
Ihre Stimme war wie das Rauschen eines Windes, der aus dem Abgrund kommt.
Er//wir//er und wir//werden sein//wie ich//wie ich bin//ein Schatten//ein Teil des Schattens.
Gilfalas wich ebenfalls zurück. Sein helles Gesicht war weiß wie Kalk. Wenn jemand die Schatten fürchtete, dann er; denn nur wer das Licht kennt, weiß, wie tief die Finsternis ist.
Doch dann erkannte er, dass er gar nicht gemeint war. Gwrgi wimmerte.
»Nein … nein … nicht …« Gwrgis Stimme war zu einem Würgen geworden. Unartikulierte Laute drangen aus seiner Kehle. »Weg, weg … gollum … « Er hatte sich zusammengekrümmt und die Arme mit den langen, mit Schwimmhäuten bewehrten Fingern vors Gesicht gehalten. Seine Kiemen zitterten.
Die Schatten kamen auf ihn zu. Die steinerne Platte lehnte noch halb im Eingang. Eines der Schattenwesen wischte sie achtlos beiseite, und seine schwarze Hand glitt durch das Gestein, als wäre es Rauch, und löste es auf.
»Seht doch!«, keuchte Aldo.
Und alle begriffen: Dies waren die Geschöpfe gewesen, welche die Höhlungen geschaffen hatten, durch die die Gefährten aus dem Reich der Zwerge in die Gegenwelt der Gnome gelangt waren und wieder zurück. Mit ihren Händen hatten sie das lebende Gestein geschöpft und ausgehöhlt und so einen Übergang zwischen den beiden Welten geschaffen. So war es geschehen vor langer, langer Zeit, ehe Erzmeister Fregorin sie gebannt hatte. Und jetzt waren sie wieder da, aus der Tiefe erweckt, mit dem Wasser hinaufgestiegen. Wer konnte ihnen nun noch Einhalt gebieten?
Der erste der Schatten trat vor. Seine schwarze Hand war nach Gwrgi ausgestreckt. Und Aldo erkannte, was geschehen würde, vor ihren Augen: Der Schwarze würde
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