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Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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klingt wie …«
    »… ein Lied«, grollte eine tiefe Stimme. »Jemand singt.«
    Gorbaz saß im Gras unter den Bäumen, den Rücken gegen einen Stamm gelehnt. Er hatte so still dagesessen, dass sie ihn gar nicht bemerkt hatten, aber er war wach wie sie. Ansonsten schien alles ringsumher zu schlafen. Kim wunderte sich, dass man ihn so unbewacht hier im Freien verweilen ließ, als alten Feind des Elbenvolkes.
    »Elokh-hai«, sagte der Bolg, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Elben. Halten Wache.«
    Kim schaute sich um, aber er konnte niemanden sehen. Es war auch nichts zu hören bis auf das ferne, traurige Lied. Es übte eine seltsame Anziehung auf ihn aus.
    »Wenn wir schon mal wach sind«, meinte Aldo, »können wir auch mal nachsehen, woher dieser Gesang kommt.«
    »Aber wir können doch nicht so einfach hier herumschnüffeln«, wandte Kim ein. »Was werden unsere Gastgeber von uns denken?«
    Aldo zuckte die Schultern. »Schauen wir mal, wie weit sie uns kommen lassen«, meinte er. »Wenn sie uns ohnehin im Auge halten. Ich kann hier nicht einfach still rumsitzen. Und ich habe das Gefühl, dieses Lied …«
    »Was ist damit?«
    »Es ruft mich.«
    »Ich verstehe, was du meinst.«
    Gorbaz erhob sich, ein schwarzer, unförmiger Schatten vor dem flirrenden Halbdunkel des Waldes. Zweige knackten unter seinem Gewicht.
    »Ich komme mit.«
    Der Mond schien hell genug, dass sie den kiesbestreuten Pfad zwischen den Bäumen deutlich erkennen konnten. Wie alle Wege hier im Verborgenen Tal verlief er nicht geradlinig, sondern in Schwüngen und Windungen, so dass er bald außer Sicht geriet. Doch das Licht, das Kim nach draußen gelockt hatte, schien immer noch klar und rein in der Tiefe des Waldes und zeigte ihnen an, in welche Richtung sie gehen mussten.
    Denn von dort her kam auch der Gesang. Jetzt vernahmen sie einzelne Worte, eine weibliche Stimme, süß und hell und klar:
    »Anta lómea nai na’ Ithiaz Keiden,
dómea ai lantanna lálaith essei,
entea nessei elenna ar éa-theiden
nárea lisse enn avárea lessei.
Anta lómea nai na’ Ithiaz Keiden …«
    »Versteht Ihr, was sie singt?« Aldo hatte seine Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern gesenkt.
    »Nicht alles«, gestand Kim. »Aber den Sinn begreife ich schon: Sie singt davon, dass sie sich in manchen dunklen Nächten zurücksehnt nach Ithiaz Keiden, den Wassern des Erwachens, wo an den Ufern die Lilien blühten, die den Glanz der Sterne einfingen, aber mehr noch das Licht des Sonnenaufgangs. Ithiaz Keiden, das ist der Ort in der Überwelt, wo einst die Elben erwachten.«
    Deutlicher und klarer wurde das Lied:
    »… elei, védui Cúrion ai Coriënna
entea vessei, córui-vanna itheiden
anna Eloai orimé, ela rivënna
anta lómea nai na’ Ithiaz Kevden.«
    »Es ist ein ziemlich kompliziertes Versmaß«, fuhr Kim fort, »das die Elben an-lálaith nennen, nach Art des Wellenschlags, weil es immer hin und zurück geht. Cúrion und Coriënna, das sind der junge Herr und die Braut, die sich dort begegneten. Dies war das Erste, was die Elben sahen, als sie erwachten, und vor dem Glanz des Göttlichen Paares verblassten die Sterne wie die Dunkelheit bei der Erinnerung an Ithiaz Keiden. Oder so ähnlich«, schloss er lahm, als er merkte, dass ihm keiner mehr zuhörte.
    Sie waren auf eine Lichtung hinausgetreten. Vor ihnen lag ein Teich, kreisrund, ein silberner Spiegel im Glanz des Mondes. An seinem Ufer erhob sich eine Art Pavillon, ein kleiner, runder, tempelartiger Bau, dessen Säulen von schlanken, silberweißen Birken gebildet wurden. Ihre hohen, schmalen Kronen, die sich nach oben zu Spitzen verjüngten, bildeten ein Dach, das in der Mitte zum Himmel offen war. Der Mond, der direkt darüber stand, ließ einen Strahl seines Lichts hindurchfallen auf die Gestalt, die dort stand – auf ihr goldenes Haar, das von einem Reif zusammengehalten wurde, und ihr weißes Gewand. Und siehe! An ihrem Finger erglänzte ein Ring, schmucklos, ohne Stein, ein silbernes Band, und doch erkannte jeder, der ihn sah, dass dies ein Ring der Macht war; denn sein Glanz umhüllte sie wie einen Mantel, ließ sie größer und mächtiger erscheinen als ein Wesen der begrenzten Welt: eine Göttin, gekleidet in Herrlichkeit.
    »Kommt her, ihr beiden«, sagte sie. »Kommt, und seht!«
    Wie in Trance ging Aldo auf sie zu, und Kim ebenso, mit steifen, unbeholfenen Schritten. Gorbaz, obwohl die Einladung ihn nicht mit eingeschlossen hatte, folgte ihnen wie ein Schatten. Als sie näher traten,

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