Die Herren der Zeit
solchen Möglichkeit gefangen.«
Fabian hatte mit seinem scharfen, analytischen Verstand sofort die Schlussfolgerung gezogen. »Du meinst, es gibt da irgendwo einen Punkt in der Vergangenheit, von dem an sich die Dinge in dieser Zeit anders entwickelt haben, als wir sie kannten?«
»An irgendeinem Punkt muss es angefangen haben, und ich möchte gerne wissen, wann und wo.«
»Aber ich sehe nicht, wie uns das jetzt helfen soll«, meinte Fabian mit einem Seufzen.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte Kim. »Aber es ist zumindest etwas, womit wir anfangen können. Ein erster Schritt. Was danach kommt, werden wir sehen. Aber ich kann und will die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir vielleicht doch noch etwas ändern können.«
»Das denke ich auch«, kam da Gilfalas’ leise, klare Stimme aus der Dämmerung. »Denn wozu wärest du sonst hierhergekommen, aus dem Reich der Legende. Denn heißt es nicht von dem Ring des Ffolks, dass er seinen Träger immer dorthin bringe, wo er am meisten gebraucht wird? Welchen Sinn sollte es sonst haben, uns die Erinnerung an das zurückzubringen, was hätte sein können? Nur um uns zu quälen? Das glaube ich nicht.«
»Wer kennt die Pläne, die das Göttliche Paar mit der Welt hat? Es ist weder ewig noch vollkommen – aber grausam ist es nicht«, meinte Ithúriël.
»Aber wo können wir Gewissheit erlangen?«, fragte Kim.
»An dem einzigen Ort, wo die Geschichte aufbewahrt und erforscht wird«, antwortete Fabian. »An der Universität von Allathurion.«
»Dann gibt es die Universität noch? Trotz alledem? Du hast dort studiert?«
»Ja und nein«, gab Fabian kryptisch zurück. »Du wirst sie als einen sehr veränderten Ort vorfinden, an dem ein Studium nicht sehr heilsam ist. Aber es gibt sie noch.«
»Dann«, beschloss Gilfalas, »brechen wir morgen auf.«
In dieser Nacht lag Kim lange wach.
Der Wind sang in den Bäumen, und die Wände des Gästehauses, in dem man ihm ein Lager bereitet hatte, waren so dünn und durchlässig, dass sie mit der Umgebung des Waldes eins zu werden schienen. Das Mondlicht, das im flirrenden Wechsel des Blattwerks auf die Fenster fiel, ließ die durchscheinenden Scheiben verschwimmen. Nichts Bedrohliches war daran, doch der Ffolksmann, der ein Haus auf fester Erde gewohnt war, mit starken Balken und einem prasselnden Kaminfeuer, kam sich schutzlos und preisgegeben vor. Ich bin allein in einer fremden Welt, ging es ihm durch den Kopf, und nichts um mich her hat Bestand. Oder bin ich es selbst, der eines Tages verblassen wird, wenn diese Geschichte wahr ist?
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Er streifte die seltsam federleichte Decke, die man ihm gegeben hatte, zurück, und stand auf. Durch die Füllung in der Tür sah er etwas schimmern, wie ein fernes Licht. Er schob das Türblatt beiseite und trat ins Freie.
Selbst lange nach Mitternacht war es hier unten im Tal nicht vollständig dunkel. Der Mond hing über den Bäumen wie eine Scheibe aus flüssigem Silber, und zwischen den Zweigen funkelten juwelengleich die Sterne. Die Nacht war erfüllt vom Gesang des Windes und mehr …
»Könnt Ihr auch nicht schlafen, Herr Kimberon?«
»Was?« Kim fuhr herum. Selbst in dem ungewissen Mondlicht war die kleine Gestalt, die neben ihm aufgetaucht war, unverkennbar mit ihrem lockigen Haar und den spitzen Ohren. »Aldo! Du auch?«
Aldo seufzte. »Ach, ich wünschte mir ein richtiges Bett, mit dicken Federkissen und wollenen Decken. Nicht dieses flimsige Zeug von den Elben. Es ist ja alles ganz schön, aber …«
»Ich weiß, was du meinst. Es ist nicht wie daheim.« Er schluckte. Die Stimme versagte ihm.
Daheim! Würden sie jemals wieder nach Hause kommen? Mit einem Male überfiel ihn die ganze Wucht der Erkenntnis. Elderland gab es nicht mehr. Das ganze Land mit seinem kleinen, absurden Ffolk und ihren ach so wichtigen Belangen – es hatte nie existiert! Sie selbst, die sie hier standen, waren nur eine Laune des Schicksals, eine Unregelmäßigkeit im Gefüge der Zeit. Er ballte die Hand zur Faust. Der Ring an seinem Finger blinkte im Mondlicht. In diesem Augenblick wünschte er sich, er hätte diesen Ring nie besessen; dann wäre auch er jetzt mit den anderen des Ffolks vergessen und fortgeweht von dem großen Sturm, der vor dem Einzelnen ebenso wenig Halt macht wie vor Völkern und Reichen …
Der Wind, der in den Bäumen sang, trug den auf- und abschwellenden Klang einer Klage mit sich.
»Horcht!«, sagte Aldo. »Hört Ihr es auch?«
»Ja. Es
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