Die Herren der Zeit
hungrig sein und durstig, und deine Gefährten ebenso. Lasst uns zu Tische gehen und essen und trinken und fröhlich sein. Und danach ist immer noch Zeit, sich zu beraten und eine Entscheidung zu fällen.«
Die Elben hatten auf einer Lichtung hinter dem Palast einen langen Tisch aufgestellt. Dort standen Speisen und Getränke bereit, Brot und Wein und Früchte, wie mit Silber und Gold überpudert. Am Rande der Lichtung plätscherte ein Bach, mit Seelilien bestanden, jenen Blumen, die den Elben am liebsten sind, weil sie sie an die Wasser des Erwachens erinnern, den Ort in der Überwelt, wo alles begann. Das Licht des Frühlings spielte im Blattwerk der Bäume und warf seine bunten Farben auf den Teppich aus Gras und Blumen. Die Speisen waren leicht und süß, und der Wein perlte im Kristall, und es war schwer, an einem Ort wie diesem an traurige Dinge zu denken oder an die Schwere des Schicksals.
An diesem Tag saßen sie noch lange zusammen an der Tafel draußen unter den Bäumen, während der laue Tag sich einem milden Abend zuneigte.
Sie redeten hin und her und versuchten, eine Erklärung zu finden für das, was geschehen war, aber keiner wusste die Lösung.
»Was uns fehlt, ist ein Bier«, meinte Fabian. »Ach, wie ich das dunkle Bier aus dem Goldenen Pflug vermisse – obwohl ich es, streng genommen, nie gekostet habe.«
»Sei still«, stöhnte Kim. »Du machst es nur noch komplizierter.«
»Was ich vermisse«, meinte Aldo, der still am Rande der Gesellschaft gesessen hatte, »ist ein Pfeifchen mit gutem Kraut.«
»Kraut?«, fragte Gilfalas. »Es gibt hier manch wundersame Kräuter, aber …«
»Pfeifenkraut!«, rief Fabian aus. »Ich erinnere mich. Nein, das kennt man hier nicht.«
»Kein Pfeifenkraut?«
Kim war entgeistert.
»Kein Ffolk, kein Kraut.«
»Aber was raucht man denn hier, wenn man nachdenken will?«
»Wir müssen halt ohne Hilfsmittel denken …«
Von allem Unwahrscheinlichen, was Kim im Laufe dieses Tages erfahren hatte, erschien ihm dies, in der gelösten Stimmung, in der er sich nun befand, am unglaublichsten. Wenn er sich an die von Rauch umwölkten Kollegien erinnerte, in denen seine Freunde und er einander die Ideen wie Bälle zugespielt hatten, dann musste er feststellen, dass außer der Geschichte der letzten Jahrhunderte noch einiges andere verloren gegangen war.
»Rauchen?«, sagte Gorbaz. »Bolgs rauchen.«
Kim sah ihn verblüfft an. »Du meinst, richtig rauchen? Pfeifenkraut?« Er machte eine Geste, als wollte er eine Pfeife stopfen.
»Nein, nicht so. So!« Seine Finger machten eine flinke Bewegung, als drehe er etwas dazwischen. Es sah erstaunlich geschickt aus für zwei so große Hände wie die seinen. »Rollen. Zigar.«
»Das klingt nach einem ziemlich üblen Bolg-Wort«, knurrte Fabian, der sich immer noch nicht ganz daran gewöhnt hatte, dass Gorbaz jetzt zu ihnen gehörte.
»Hast du so eine … ›Zigar‹?«
»Nein.« Gorbaz hob bedauernd die Hände. »Nicht rauchen«, sagte er traurig.
Aber in Kim hatte die Erinnerung an ihre Tabakkollegien von einst etwas angestoßen, eine Gedankenkette, die er weiterzuverfolgen suchte. »An einem dieser Abende«, sagte er langsam, »als wir so rauchend zusammensaßen, da disputierten wir über Geschichte und ob es die Helden sind, die Geschichte machen, oder ob die Helden von der Geschichte gemacht werden. Du erinnerst dich, Fabian?«
Fabian runzelte die Stirn. »Nur ganz schwach, wie durch einen Nebel. Aber sprich weiter …«
»Einer von uns, ich glaube, es war Burin, erzählte von einer These, die ein Gelehrter des sechsten Jahrhunderts – in der Zeitrechnung des Imperium Humanuni – aufgestellt hatte, irgendetwas über die Fehlbarkeit der Geschichte …«
»De Fallibilitate Humanorum Historiæ« , sagte Fabian. »Ja ich erinnere mich. Wie war doch sein Name? Aterias? Klerias?«
»Ktesiphas! Magister Ktesiphas von den Inseln. Er vertrat eine Theorie, nach der es gewisse Punkte in der Geschichte gibt, wo eine einzige Entscheidung, eine einzige Person am richtigen Ort oder zur richtigen Zeit – oder auch nicht – den gesamten Lauf der künftigen Geschichte verändern könne. Numquam historia ex ipsa corrigitur – die Geschichte berichtigt sich nicht von selbst, das war seine These.
Wir kamen damals zu dem Schluss, dass es sich im Nachhinein nicht beweisen lässt, weil das, was war, bereits geschehen ist. Alles andere ist im Bereich der unerfüllten Möglichkeiten. Doch es scheint, als seien wir nun in einer
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