Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
Vom Netzwerk:
ein, dass Fabian diese Geste wohl kaum wahrnehmen konnte, und so sagte er: »Also, gehen wir.«
    Mit einem Seufzer raffte er sich auf. Die kurze Rast, so notwendig sie gewesen war, hatte ihn eher erschöpft als gestärkt. Die verschorfte Wunde an seiner Stirn schmerzte, und sein ganzer Körper tat ihm weh. Aber sie konnten hier nicht bleiben. Sie mussten weiter.
    Es war ein mühsames Vorankommen. Die Schlucht wand sich hierhin und dorthin, und auf ihrem Grunde war es so dunkel, dass man kaum sehen konnte, wohin man seinen Fuß setzte. Manchmal waren große Felsbrocken von den Steilhängen in die Tiefe gestürzt und hatten sich auf dem Boden gesammelt, gegen die Wände verkeilt. Dann musste man auf Händen und Füßen darüber hinwegklettern; kein leichtes Unterfangen in der Düsternis. Zumal selbst hier in dieser lebensfeindlichen Umwelt Moose und Flechten wuchsen, mit scharfen Zacken und Rändern, an denen man sich, wenn man nicht aufpasste, leicht die Hände blutig schnitt.
    Dazu kam der Hunger. Es war jetzt einen ganzen Tag her, seit sie das letzte Mal etwas gegessen hatten, zusammen mit den Gefangenen in der schwarzen Feste. Jetzt, mit knurrendem Magen, wäre Kim selbst der Fraß aus dem Kessel, den er damals zurückgewiesen hatte, als ein schmackhaftes Mahl erschienen. Oder zumindest besser als gar nichts.
    Und da waren die Schatten. Er spürte ihre Gegenwart. Wenn er versuchte, mit seinen scharfen Augen in die Düsternis zu spähen, um einen Blick darauf zu erhaschen, dann schienen sie ihm auszuweichen, aber sie waren immer noch da, ringsum. Er bemühte sich, sie aus seinen Gedanken zu verdrängen, stellte aber fest, dass es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, bewusst an etwas nicht zu denken.
    So versuchte er seine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren. Er dachte an zu Hause. An das Elderland, wie er es kannte, an das freundliche, absurde, kleine Ffolk mit seinen alltäglichen, ach so wichtigen Kümmernissen und Freuden. Er dachte an das Museum mit seinen seltsamen und kuriosen Schätzen; an die Abende vor dem Kamin, während Gutsfrau Meta in der Küche rumorte; an seine Studierstube, wo er Stunden, Tage und Wochen verbracht hatte, auf der Suche nach den letzten Geheimnissen, die sich in den alten Schriften verbargen …
    Und er stellte fest, dass er sich nicht mehr erinnern konnte. Er wusste nicht mehr, was er gelesen hatte. Er wusste es einfach nicht mehr! Ein halbes Leben des Studierens, der Suche nach der Wahrheit, und keine Zeile war ihm davon im Gedächtnis geblieben. Ja, er erinnerte sich nicht einmal mehr an das, was er selbst geschrieben hatte, weder an die Arbeiten, die er während seines Studiums verfasst hatte, noch an den Anfang seines Opus magnum , seiner Dissertation. Es war einfach weg. Ausgelöscht, als wäre es nie gewesen.
    Das Herz blieb ihm stehen. Verzweifelt versuchte er, sich an irgendetwas zu erinnern. Doch da war nichts, nur Fetzen von alten Kinderreimen, die ihm in den Sinn kamen wie flüchtige Blicke auf eine verlorene Heimat.
    Und dann, einer Regung tief in seinem Herzen folgend, die er selbst nicht ergründen konnte, begann er zu singen:
    »Wenn mich in diesen Tagen
die dunklen Träume plagen
in einem fremden Land,
umringt von schwarzen Mauern,
wer kann da überdauern?
Nimm, Vater, meine Hand!
    In diesem Tal der Tränen,
erfüllt von Todessehnen,
wo Raum und Zeit verrinnt,
wenn Schatten mich umringen,
will mir das Herz zerspringen.
Hilf, Mutter, deinem Kind!«
    Seine Stimme, erst dünn und zittrig in der kalten Dunkelheit, wurde fester und klarer, als er weitersang.
    »Wenn alle mich verlassen
und mich die Menschen hassen
so bleibet ihr mir treu.
Drum lass ich mir den Glauben
vom bösen Feind nicht rauben
und hoffe stets auf neu.«
    »Und hoffe stets auf neu«, wiederholte er die letzte Zeile, von neuer Kraft erfüllt, doch hielt dann von selbst inne. Fabian war stehen geblieben. Von irgendwoher erklang ein Echo seines Gesangs; es war, als griffen die Schatten selbst ihn auf und würfen ihn vielfach gebrochen zurück. Und da waren noch andere Laute, harscher, weiter entfernt: Befehle und Peitschenknallen und das Wimmern gequälter Geschöpfe.
    Gesang und Stimmen verebbten, und es war wieder still.
    »Ein Laut trägt weit in diesen Schluchten«, sagte Fabian leise. »Wir sollten vorsichtig sein mit dem, was wir sagen – und tun.«
    Kim schluckte. Die Hoffnung, die in ihm aufgeflammt war, flackerte wie ein Kerzenlicht, das unter einem plötzlichen Windstoß zu

Weitere Kostenlose Bücher