Die Herren der Zeit
verlöschen droht.
»Ich … ich konnte nicht anders«, stammelte er. »Ich musste das singen.«
»Ich weiß«, sagte Fabian. »Und es war gut so.«
Ob die wachsende Helle des Tages daran schuld war oder ob sie wirklich den Punkt der tiefsten Dunkelheit überwunden hatten, jedenfalls wurde es lichter voraus. Zwar stieg das Gelände nicht an, aber es ging zumindest nicht mehr weiter hinab. Auch der Boden war ebener, als hätte sich die Wut der Giganten, die mit Steinblöcken nach allem und jedem geworfen hatten, hier ausgetobt. Doch der Lauf der Schlucht wand sich immer noch hierhin und dorthin, wie ein Riss in trockener Erde, und wie Ameisen krochen sie weiter auf seinem Grunde entlang, als könnte in jedem Augenblick ein riesiger Stiefel auf sie herabkommen und sie zertreten.
Eine weitere Biegung nach rechts und nach links, und plötzlich öffnete sich der Blick. Vor ihnen querte eine andere, breitere Schlucht den Weg. In ihrer Tiefe rauschte Wasser, das sich schäumend über viele Steine und Stufen seinen Weg bahnte, dem fernen Meere zu. Zur Linken gaben die Felswände einen Blick auf die ferne Kette des Sichelgebirges frei, die sich in erhabener Bläue über die Niederungen der Welt erhob.
»Das muss der Ander sein!«, rief Kim aus. »Obwohl er so … so ganz anders aussieht.« Dass in diesem Land fast alles anders war, als es sein sollte, daran hätte er sich eigentlich inzwischen gewöhnen sollen. Dennoch erschien es ihm immer noch seltsam.
»Wenigstens heißt das, dass unsere Richtung stimmt«, meinte Fabian. »Nur, wie kommen wir da rüber?«
Sie befanden sich auf einem Felsband, das sich in halber Höhe an der Seitenwand des Flusstals entlangzog. Nach oben waren es gewiss zwanzig Ffuß glatter Fels; nach unten ging es weitere zehn Ffuß lotrecht hinab, und das Wasser, das mit Gewalt über die Steine schäumte, war so reißend, dass es Wahnsinn gewesen wäre, auch nur den Versuch zu machen, dort hinüberzuklettern.
»Hier jedenfalls nicht«, stellte Kim fest. »Also – rechts oder links?«
Fabian warf einen Blick auf den Weg zur Linken. Der Weg war gangbar, wenn auch schmal und hier und da von heruntergefallenen Steinen und von Felsabbrüchen zusätzlich verkleinert, und wand sich nach wenigen hundert Schritt außer Sicht. Der Weg zur Rechten, nach Westen, wirkte breiter, und das Tal schien nach dorthin flacher zu werden. Aber dies war die Richtung, die direkt in das Gebiet führte, wo die Armeen des Feindes lagen.
»Nach rechts«, entschied Fabian. »Links geht es nach Zarakthrôr, und dorthin will ich nicht. Wer weiß, was dort in der Dunkelheit lauert, Vielleicht finden wir weiter flussabwärts eine Stelle, wo wir hinüber können.«
Kim war sich nicht sicher, ob dies die beste Entscheidung war, aber er hatte es Fabian nun einmal freigestellt, und so musste er sich damit abfinden. Darüber hinaus, sagte er sich, war vermutlich ein Weg so gut oder so schlecht – oder zumindest genau so gefährlich – wie der andere.
Die Sonne, die jetzt im Süden stand, ein hellerer Fleck in der allumfassenden Graue, erwärmte den Fels, sodass es nicht mehr so kalt war, als sie weitergingen. Dennoch hatte Kim das Gefühl, dass die Schatten nicht geringer wurden; im Gegenteil. Hier, wo es heller war als am Grunde der Schlucht, waren sie schärfer, härter umrissen. Überall, wo Licht ist, dachte er, ist auch Schatten.
Wäre der Gesang nicht gewesen, so wären die Schatten vielleicht dort geblieben. Dort, wo es dunkel war, wo keiner sie störte. Am Ende der Hoffnung, auf dem Grunde der Verzweiflung, aus der heraus sie geboren waren.
Es wäre zu viel gesagt, wenn man behaupten wollte, die Schatten hätten das Lied verstanden. Dazu hätte es mehr bedurft als dessen, wozu sie imstande waren. Die Schatten dachten nicht. Sie fühlten nicht. Aber der Hall des Liedes hatte sie erzittern lassen, und so hatten sie unbewusst einen Schritt getan, der nie wieder umkehrbar ist. Den Schritt vom Sein zur Erkenntnis.
Der Drang, der sie weitertrieb, war so stark, dass jeder Widerstand dagegen zwecklos war. Und so folgten sie ihm, aus der Dunkelheit hinaus ins Licht.
Denn überall, wo Schatten ist, ist auch Licht.
Sie waren vielleicht eine Viertelstunde so gegangen, die aufragende Wand zur Rechten, den Felssturz und den schäumenden Fluss zur Linken, als Fabian plötzlich anhielt.
»Horch!«
Kim blickte auf. Vor ihnen versperrte ein Felsvorsprung die Sicht, und das Tosen des Flusses hatte selbst Kims scharfe Ohren so
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