Die Herren des Geldes: Wie vier Bankiers die Weltwirtschaftskrise auslösten und die Welt in den Bankrott trieben (German Edition)
Anführer Deutschlands einschließlich Schacht von zwei grundverschiedenen Annahmen aus, wie eine solche Einigung aussehen könnte. Während seiner Kampagne für eine neue Verhandlungsrunde hatten die Alliierten Gilbert explizit mitgeteilt, dass jede Art von weiteren Zugeständnissen gering ausfallen müsse. Die Einnahmen aus Deutschland mussten die Rückzahlung der Kriegsschulden an die USA abdecken und Frankreich sowie Belgien noch darüber hinaus Geld zur Verfügung stellen, um einen Teil der Wiederaufbaukosten zu decken. Die niedrigste Zahl, die die Alliierten zugestehen wollten, war eine Gesamtzahlung in Höhe von 500 Millionen Dollar pro Jahr. In seiner Begeisterung, die verschiedenen Parteien am Verhandlungstisch zu versammeln, überzeugte sich Gilbert selbst davon und erzählte jedem auf der Seite der Alliierten, dass die Deutschen eine solche Einigung als Preis dafür akzeptieren würden, die Franzosen aus dem Rheinland herauszubekommen und ihre ökonomische Souveränität wiederzuerlangen.
Derweil war Schacht der Meinung, die amerikanischen Bankiers hätten inzwischen so viel Geld in Deutschland angelegt – ihr Anteil an den Gesamtkrediten von drei Milliarden Dollar betrug 1,5 Milliarden Dollar –, dass sie eine effektive Lobby für eine Reduzierung der Reparationen darstellten und für Deutschland genug Druck auf die Regierungen der Gläubigerländer ausüben würden, um eine Einigung über Reparationszahlungen in Höhe von 250 Millionen Dollar pro Jahr zu erreichen. Schacht hatte inzwischen mit der Deutschen Demokratischen Partei gebrochen, bei deren Gründung er mitgewirkt hatte, und begann mit der DNVP zu sympathisieren, der Deutschnationalen Volkspartei. Einmal prahlte er gegenüber seinen Freunden sogar, er könne die Reparationen unter 200 Millionen Dollar pro Jahr drücken. Gilbert tat sein Bestes, um den Deutschen einen derart exzessiven Optimismus auszureden. Diese wiederum versuchten ihn davon zu überzeugen, Deutschland »tanze auf einem Vulkan« und könne es sich nicht leisten, pro Jahr 500 Millionen Dollar zu zahlen. Letztlich redeten beide Parteien aneinander vorbei.
Als sich die Delegationen im Februar 1929 in Paris zu einem weiteren Gipfeltreffen über die Reparationen versammelten, ahnte daher niemand, wie weit die Vorstellungen der verschiedenen Parteien noch immer auseinanderlagen. Es war wohl ein schlechtes Vorzeichen, dass sich am Beginn der Konferenz eine Kaltfront über Europa erstreckte, die die kältesten Temperaturen seit fast 100 Jahren mit sich brachte. Die Temperaturen in Berlin fielen auf das niedrigste Niveau seit 200 Jahren; in Schlesien herrschten 49 Grad unter null – es war der kälteste Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1690. Europa versank im Eis. Auf dem ganzen Kontinent standen die Züge still, in der Ostsee und auf der Donau waren die Schiffe vom Eis eingeschlossen, und in vielen ländlichen Gemeinden, vor allem in Osteuropa, herrschte Hungersnot. In den Zeitungen fanden sich erschreckende Reportagen, die an das dunkle Zeitalter erinnerten. Man las von verhungernden Wölfen, die einsame Dörfer in Albanien und Rumänien angriffen und von einer ganzen Zigeunersippe, die man erfroren in Polen gefunden hatte.
Die deutsche Delegation, die 27 Kisten mit Aktenordnern mitgebracht hatte, kam am 8. Februar mit dem Zug aus Berlin in Paris an. Paris war von der schlimmsten Kälte verschont geblieben – die Temperatur lag lediglich bei zehn Grad unter null. Trotzdem hatten die Behörden Kohlenpfannen auf den Straßen aufgestellt. Aber trotz all der Kälte boomte die französische Hauptstadt sichtlich – ganz im Gegensatz zu Mittel- und Osteuropa. Die inländische Wirtschaft, angetrieben von steigenden Exporten, hohen Sparquoten und großen Kapitalzuflüssen, expandierte jährlich um neun Prozent, was Frankreich zum schnellsten Wachstum aller bedeutenden Länder verhalf. In den vergangenen beiden Jahren hatte der französische Aktienmarkt die beste Performance weltweit genossen, sogar noch besser als die Entwicklung an der Wall Street. Seit Ende 1926 war er um 150 Prozent gestiegen, während der Dow nur um 100 Prozent zugelegt hatte. Mit den guten Zeiten entstand ein neues Selbstbewusstsein, sogar Arroganz, und – schließlich sprechen wir hier von Paris – auch Skandale. Als die Delegierten eintrafen, war die Hanau-Affäre immer noch Stadtgespräch.
Marthe Hanau war eine 42-jährige geschiedene Frau, die 1925 La Gazette du Franc gegründet hatte, eine
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