Die Herren des Geldes: Wie vier Bankiers die Weltwirtschaftskrise auslösten und die Welt in den Bankrott trieben (German Edition)
schließlich ausfindig gemacht hatte, weigerte er sich zu handeln, bis der New Yorker Gouverneur Herbert Lehman aus der gleichnamigen Bankiersfamilie etwas unternahm. Mitten in der Nacht begaben sich Harrison, Lamont und einige weitere Bankiers zu Lehmans Wohnung in der Park Avenue. Lamont und die Privatbanken versuchten Lehman davon zu überzeugen, zunächst gar nichts zu tun, während Harrison immer wieder betonte, dass es keine andere Wahl gab – die Rückgänge der Goldreserven waren untragbar geworden, und wenn man nun nichts unternahm, würde die New Yorker Fed am Montagvormittag keinerlei Reserven mehr haben. Um 2.30 Uhr morgens gab Lehman schließlich nach und verkündete eine dreitägige Schließung der Banken in New York. Eine Stunde später schloss sich Gouverneur Horner seinem Beispiel an. Die Gouverneure von Massachusetts und New Jersey schlossen ihre Banken am nächsten Morgen. Die Verantwortlichen der Fed versuchten, Gouverneur Gifford Pinchot aus Pennsylvania zu erreichen, der wegen der Amtseinführung des neuen Präsidenten in Washington weilte und in einer privaten Residenz wohnte, aber dort nahm niemand den Telefonhörer ab. Schließlich erklärte sich ein Offizieller der Fed dazu bereit, zu seinem Haus zu gehen und ihn zu kontaktieren. Darauf veröffentlichte Pinchot eine Proklamation, dass er die Banken in seinem Bundesstaat am nächsten Vormittag schließen würde, nicht ohne bedauernd anzumerken, dass er selbst nur 95 Cents in der Tasche hatte.
An diesem Tag wohnten 100 000 Menschen der Amtseinführung des neuen Präsidenten Roosevelt auf den Stufen des Kapitols bei – wobei Maschinengewehre der Armee auf sie gerichtet waren. Es war wie »eine belagerte Hauptstadt in Kriegszeiten«, schrieb Arthur Krock von der New York Times .
Mittlerweile war die Kredit- und Währungsmaschinerie des Landes zum Stillstand gekommen. Das Bankensystem war in 28 Staaten der Union vollständig und in den anderen 20 Staaten teilweise geschlossen. Innerhalb von drei Jahren war das Volumen der Unternehmenskredite von 50 auf 30 Milliarden Dollar gesunken, und ein Viertel aller Banken im Land war zusammengebrochen. Die Immobilienpreise waren um 30 Prozent gesunken – fast die Hälfte aller Hypotheken war dabei geplatzt. Wegen der Kreditklemme mussten Minen und Fabriken im ganzen Land schließen. Die Stahlfabriken liefen mit weniger als zwölf Prozent ihrer Produktionskapazitäten. Die Autofabriken, die früher 20 000 Autos am Tag produziert hatten, lieferten nun weniger als 2 000 Autos. Die Industrieproduktion war um die Hälfte gesunken, die Preise waren um 30 Prozent gefallen, das Volkseinkommen war von über 100 Milliarden Dollar auf 55 Milliarden Dollar geschrumpft. Ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung – insgesamt 13 Millionen Menschen – war ohne Arbeit. Im reichsten Land der Welt hatten bei einer Gesamtbevölkerung von 120 Millionen Menschen 34 Millionen Männer, Frauen und Kinder kein Einkommen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Karl Marx prognostiziert, der Kapitalismus werde sich durch seine Zyklen von Boom und extremen Rückschlägen schließlich selbst zerstören. An diesem Tag sah es so aus, als sei das Rückgrat des Systems in einer letzten, gewaltigen Krise zerbrochen.
Teil V:
D IE N ACHWIRKUNGEN – 1933 BIS 1944
21. Der Goldstandard auf Zechtour
1933
Um bei dem anzukommen, was man nicht weiß,
muss man den Weg der Ignoranz wählen.
T. S. Eliot, Four Quartets , »East Coker«
An seinem allerersten Tag als Präsident war es Roosevelts erste Amtshandlung, jede Bank im Land zu schließen. Er berief sich auf einen Erlass aus dem Jahr 1917, der Goldlieferungen an den Feind unter Strafe stellte und verordnete Bankferien bis zum Donnerstag, dem 9. März. Gleichzeitig untersagte er den Export und das private Horten von Gold in den USA.
Zur allgemeinen Überraschung gelang es den Amerikanern sehr gut, sich an ein Leben ohne Banken zu gewöhnen. Die erste Reaktion war nicht Chaos, sondern Kooperation. Die Ladenbesitzer schrieben großzügig an, Ärzte, Anwälte und Apotheker stellten ihre Dienstleistungen gegen persönliche Schuldverschreibungen zur Verfügung. Die Harvard University gewährte ihren Studenten Mahlzeiten auf Kredit. Die First Baptist
Church in El Paso, Texas, erklärte, bei der Kollekte während des Gottesdienstes am Sonntag seien statt Münzen auch persönliche Schuldscheine willkommen. Sogar die Tänzerinnen in der Roseland-Tanzhalle in Manhattan
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