Die Herren des Geldes: Wie vier Bankiers die Weltwirtschaftskrise auslösten und die Welt in den Bankrott trieben (German Edition)
für 60 Prozent der Franzosen das unbeliebteste Land waren. Der Pariser Korrespondent der New York Times schrieb, dass »90 von 100 Franzosen Uncle Sam für selbstsüchtig, herzlos und gierig« hielten. In Großbritannien stellte der erfahrene amerikanische Auslandskorrespondent Frank Simonds fest, dass »die große Mehrheit der Briten davon überzeugt ist, dass die amerikanische Politik selbstsüchtig, schäbig und verachtenswert ist.«
Der schädlichste Effekt der Kriegsschulden war jedoch, dass sie es Großbritannien schwierig, wenn nicht unmöglich machten, die Schulden Frankreichs und Deutschlands einzutreiben. Die Anstrengungen Frankreichs, von Deutschland Reparationen einzuziehen, wurden wiederum noch hartnäckiger und Europa stürzte in einen selbstzerstörerischen Teufelskreis aus finanziellen Forderungen und Gegenforderungen.
Im Dezember 1922, als Norman nach Washington abreiste, beschrieb ihn die Londoner Times so: »Mr. Montagu Collet Norman, D. S. O., der Präsident der Bank of England ... sicherlich einer der interessantesten und auch fähigsten Männer, die seit mindestens einer Generation dieses Amt innehatten.«
»In seiner Erscheinung erinnert er an die frühen viktorianischen Staatsmänner«, hieß es weiter, »aristokratisch in seinem Auftreten und seinem Temperament … passt sein an Shakespeare erinnernder Kopf gut zu seiner hoch gewachsenen, stillen und würdigen Erscheinung. Mr. Norman liebt Musik, Poesie und Bücher, dazu besitzt er eine Sammlung seltener und schöner Hölzer. Viele, die mit ihm in Kontakt kommen, haben das Gefühl, dass ihn eine undefinierbare, geheimnisvolle Aura umgibt. Er hat das feine Einfühlungsvermögen eines Intellektuellen.«
Es war bemerkenswert, wie enorm sich Norman seit August 1914 verändert hatte. Er war eine jämmerliche Gestalt gewesen, unsicher, was ihn selbst und seine Zukunft betraf, von Neurosen geplagt, und seine nicht gerade strahlende Karriere war durch eine Geistesstörung beendet worden. Und jetzt wurde er allgemein als prominentester und mächtigster Bankier in ganz Europa, wenn nicht auf der ganzen Welt anerkannt.
Gleich zu Beginn seiner Amtszeit in der Bank war es Norman wichtig gewesen, für frischen Wind zu sorgen. Während seine Vorgänger zur Arbeit gefahren wurden, prachtvoll in Gehrock und Zylinder gekleidet, kam er im Geschäftsanzug mit der U-Bahn – mit der Central Line von Notting Hill aus –, wobei die Fahrkarte munter aus seinem Hutband lugte. Seine ganze Persönlichkeit schien sich verändert zu haben. Fast jeder bemerkte seine Liebenswürdigkeit, seine höflichen, altmodischen Manieren und vor allem den Charme, der ihm »auf einzigartige Weise gegeben« war. Einer der anderen Direktoren sagte: »Er machte niemals einen Scherz oder dergleichen. Er war einfach amüsant und ein Ausbund an Esprit.«
In diesen fünf Jahren hatte er sich in den Augen der Öffentlichkeit auch einen gewissen Zauber erworben. Vor Norman war der Präsident der Bank in der Regel eine recht unbekannte Figur gewesen, die nur einige Insider innerhalb des Bankbezirks kannten. Aber Normans Persönlichkeit schien eine mächtige Faszination auf die Presse auszuüben, die ihn als Finanzgenie von großer Originalität lobte. Alle diese Charakterzüge, die man früher als die harmlosen Überspanntheiten eines »seltsamen alten Mannes« beurteilt hatte – sein extravaganter Kleidungsstil, seine Schlapphüte, seine künstlerischen Interessen, seine Kenntnisse der östlichen Philosophie – hielt man nun für untrügliche Anzeichen ungewöhnlicher Kreativität. Seine unorthodoxe Erscheinung, seine zurückhaltende, amüsierte Liebenswürdigkeit, vielleicht vor allem sein mangelndes Interesse an Geld, obwohl er im Zentrum dessen Mysterien arbeitete – das alles trug zum Image nüchterner Macht bei, halb väterlich, halb priesterlich.
Diese Aura wurde dadurch verstärkt, dass er Auftritte in der Öffentlichkeit mied. Man sah ihn selten bei gesellschaftlichen Ereignissen in der City. Nie hielt er Reden, abgesehen von der jährlichen Ansprache im Mansion House, die vom Bankpräsidenten traditionell verlangt wurde, und er gab auch den Zeitungen niemals Interviews.
In diesen frühen Jahren gewöhnte sich Norman an, unter Pseudonym zu reisen, was zudem enorm zu seinem Mythos und zu dem Geheimnis beitrug, das ihn umgab. Es war die große Zeit der Linienschifffahrt auf dem Atlantik. Die Londoner Times und die New York Times veröffentlichten regelmäßig Listen mit den
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