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Die Herren des Nordens

Titel: Die Herren des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Cornwell
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Seite des Feuers, und so blieben Gisela und ich neben der Tür des Bauernhauses allein. Sie hatte einen Lammfellbeutel
     am Gürtel hängen und, als Eadred mit seinen Gesängen anfing, öffnete sie den Beutel und nahm ein Bündel Runenstäbe heraus,
     das mit einem Wollfaden zusammengebunden war. Die Stäbe waren schlank und weiß. Sie sah mich an, als wolle sie mich fragen,
     ob sie die Stäbe werfen dürfe, und ich nickte. Sie hielt sie über den Boden, schloss die Augen, und dann ließ sie die Stäbe
     fallen.
    Wie üblich bildeten die Runenstäbe ein wirres Muster. Gisela kniete sich daneben, und ihr Gesicht lag neben dem ersterbenden
     Feuer in tiefem Schatten. Lange betrachtete sie die übereinanderliegenden Stäbe, sah dabei einmal oder zweimal zu mir auf,
     und dann, ganz unvermittelt, begann sie zu weinen. Ich berührte sie an der Schulter. «Was ist?», fragte ich.
    Dann schrie sie. Sie hob ihren Kopf zu den verrauchten Dachbalken und jammerte. «Nein!», rief sie laut und brachte Eadred
     zum Verstummen, «nein!» Da eilte Hild zu ihr und legte einen Arm um die Schultern des schluchzenden Mädchens, doch Gisela
     schüttelte ihren Arm ab und kauerte sich erneut über die Runenstäbe. «Nein!», rief sie ein drittes Mal.
    «Gisela!» Ihr Bruder hockte sich neben sie. «Gisela!»
    Sie drehte sich zu ihm und schlug ihn hart ins Gesicht, und dann fing sie an zu keuchen, als bekäme sie nicht genügend Luft,
     und Guthred raffte mit brennender Wange die Runenstäbe zusammen.
    «Das ist heidnischer Zauber, Herr», sagte Eadred, «eine Abscheulichkeit.»
    |194| «Bringt sie weg», sagte Guthred zu Hild, «bringt sie in ihre Hütte.» Zwei Frauen, die von dem Schluchzen angezogen worden
     waren, halfen Hild, Gisela wegzuführen.
    «Der Teufel straft sie für ihr Hexenwerk», betonte Eadred.
    «Was hat sie gesehen?», fragte mich Guthred.
    «Sie hat es nicht gesagt.»
    Er blickte mich weiter an, und einen winzigen Moment lang glaubte ich, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen, doch da
     kehrte er mir unvermittelt den Rücken und warf die Runenstäbe ins Feuer. Heftig prasselnd entzündeten sie sich, und eine zuckende
     Flamme schoss zum Dachbalken empor. Danach verkrümmten sich die Stäbe in schwarzen Windungen. «Was ist Euch lieber», fragte
     Guthred, «Falke oder Habicht?» Verständnislos schaute ich ihn an. «Wir gehen morgen auf die Jagd», erklärte er. «Was ist Euch
     lieber?»
    «Falke», sagte ich.
    «Dann könnt Ihr morgen mit Swiftness jagen», sagte er und nannte damit einen seiner Vögel beim Namen.
    «Gisela ist krank», erklärte mir Hild später am Abend, «sie hat Fieber. Sie hätte kein Fleisch essen sollen.»
    Am nächsten Morgen kaufte ich einem von Ulfs Männern ein Bündel Runenstäbe ab. Sie waren schwarz und länger als die weißen,
     die verbrannt waren. Ich bezahlte einen guten Preis für sie. Dann ging ich mit ihnen zu Giselas Hütte, aber eine ihrer Begleiterinnen
     sagte mir, Gisela leide unter einer Frauenkrankheit und ich könne sie nicht sehen. Also ließ ich die Stäbe für sie da. Man
     konnte die Zukunft aus ihnen lesen, und ich hätte besser daran getan, viel besser, sie selbst zu werfen. Stattdessen ging
     ich auf die Jagd.
     
    |195| Es war heiß an diesem Tag. Immer noch ballten sich im Westen dunkle Wolken, doch sie schienen nicht näher gekommen, und die
     Sonne brannte so heftig, dass nur die zwei Dutzend Männer von der Haustruppe ihre Kettenhemden trugen. Wir rechneten nicht
     damit, auf Feinde zu treffen. Guthred führte uns an, Ivarr und sein Sohn ritten mit, Ulf und auch die zwei Mönche Jænberht
     und Ida. Sie wollten für die Mönche beten, die einst in Gyruum niedergemetzelt wurden. Ich erzählte ihnen nicht, dass ich
     bei diesem Gemetzel anwesend gewesen war. Es war das Werk Ragnars des Älteren gewesen, und er hatte Grund dazu gehabt. Die
     Mönche hatten Dänen ermordet, und dafür bestrafte Ragnar sie. Doch heute wird immer erzählt, die Mönche hätten in aller Unschuld
     ihre Gebete verrichtet und seien als unbefleckte Märtyrer gestorben. In Wahrheit waren es bösartige Mörder, die auch nicht
     davor zurückschreckten, Frauen und Kinder zu töten, aber welche Rolle spielt die Wahrheit, wenn Priester ihre Geschichten
     verbreiten?
    Guthred war von fiebriger Fröhlichkeit. Er redete ohne Unterlass, lachte über seine eigenen Scherze und versuchte sogar, Ivarrs
     Totenschädelmiene ein Lächeln zu entlocken. Ivarr sprach, abgesehen von den

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