Die Herrin der Kathedrale
Zügeln festhielt. Deren Hufe waren mit Lappen umwickelt. Als Nächstes wurde sie von der großen Gestalt auf eines der Pferde gehievt. Ihr Entführer saß hinter ihr auf.
»Immer in Richtung Dunkelheit, in Richtung Westen«, flüsterte die kleinere Gestalt nun und stieg ungelenk auf das zweite Tier. Sie hielten auf einen Pfad hinter den Stallungen zu, der durch ein kleines Tor in den nahen Forst führte.
Es musste bereits nach Mitternacht sein, denn der unverwechselbare Gesang der Eulen, die sich in den Wäldern um Ballenstedt eingenistet hatten, war nicht mehr zu hören. Der dumpf klingende Hufschlag der Pferde auf dem feuchten Waldboden hielt Uta trotz ihrer Erschöpfung wach. Noch nie zuvor war sie weiter von der Burg entfernt gewesen als bis zum umgebenden Forst. Erschöpft stieß sie mehrere Schreie aus, die jedoch von dem Lappen, der ihr immer mehr die Luft zum Atmen nahm, erstickt wurden.
Während sie einen Berghang hinabritten, kam Uta eine furchtbare Erkenntnis: Die Entführung war kein Streich des Bruders. Stattdessen musste dem Vater ihre beginnende Heilung und erst recht ihr Überleben ungelegen gekommen sein! Deswegen ließ er sie zum Sterben wegschaffen! Der Gedanke, dass der Vater mit ihrer Verurteilung nicht einmal mehr bis zum nächsten Gerichtstag hatte warten können, schmerzte sie mehr als all ihre Gliedmaßen. Nie mehr würde sie die Mutter, die kleine Hazecha, ihre Brüder und die ihr liebgewordenen Burgbewohner wiedersehen. Uta sackte an der Brust ihres Hintermannes in sich zusammen. »Herrgott, beschere mir einen sanften Tod«, hauchte sie und schloss die Augen.
Uta kam wieder zu sich, als der Morgen graute. Noch immer umgab sie dichter Wald. Ihr Körper schmerzte nach wie vor und vermochte die Fieberhitze trotz des Pelzumhangs nicht zu halten. Ihr zierlicher und entkräfteter Leib drohte den fremden Armen immer wieder wie Wachs zu entgleiten. Die Zeit nach dem Sonnenaufgang kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Dann endlich kam die Reisegruppe zum Stehen. Schemenhaft erkannte Uta ein Tor, das in eine hohe Steinmauer eingelassen war. Sie stöhnte vor Schmerzen, als die große Gestalt sie vom Pferd hob. Dennoch fühlte sie ihre Beine selbst dann noch nicht, als sie daraufgestellt und das inzwischen klamme Tuch von ihrem Mund gelöst wurde. Gierig sog sie die frische Luft ein und entschied, dass ihr jetzt nur noch Gott helfen könne.
Sie begann, ein Gebet zu murmeln. Da trat die kleinere Gestalt zögerlich vor sie hin und zog sich die Kapuze vom Kopf. Daraufhin unterbrach Uta ihr Gebet. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. »Du?«
Die Gestalt griff nach ihr, doch Uta schüttelte die Hände ab, die ihr bisher nur Gutes getan hatten.
»Erna!« Uta war fassungslos. »Warum hilfst du dem Vater, mich zu töten?« Sie schaute das Kammermädchen eindringlich an und wandte sich dann entgeistert ihrem zweiten Entführer zu. Am beinahe hüftlangen Haar, das ihm beim Absitzen aus der Kapuze gefallen war, meinte sie Linhart, den Stallburschen, zu erkennen. Ihr Blick glitt zurück zu Erna. »Und du? Warum bringst du mich fort? Hat der Vater dir Münzen dafür geboten?«
»Münzen?«, fragte Erna erschrocken und holte tief Luft.
»Der Graf weiß nicht, dass wir hier sind.«
Uta wankte. »Aber wer dann?«
»Die Gräfin.« Erna blickte unruhig zum Tor.
Uta war verwirrt. »Die Mutter hat veranlasst, dass ich von der Burg fortgebracht werde? Das glaube ich dir nicht!«
Ernas Hände zitterten. »Die Gräfin lässt dir sagen, dass du erst mal hierbleiben sollst.«
»Hier, fern von der Familie?« Bestürzt sank Uta zu Boden und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
»Sie meinte, dass hier der sicherste Ort für dich wäre, und hat bereits einen Boten vorausgeschickt«, beteuerte Erna und erinnerte sich an das lange Gespräch, das sie mit Hidda am gestrigen Nachmittag geführt hatte. So aufgelöst hatte Erna die sonst stets gefasste Burgherrin noch nie erlebt wie in dem Moment, in dem ihr diese die Anweisung zur Entführung gegeben hatte. Uta klammerte sich an Ernas Umhang. »Bitte lass mich hier nicht allein zurück.«
Erna fiel es schwer, sich von ihrer Freundin abzuwenden. Doch sie erinnerte sich der Worte der Gräfin, die sie eindringlich gebeten hatte, Utas möglichem Flehen nicht nachzugeben. So zog sie ihren Umhang aus Utas Händen und schritt auf das Tor zu.
Der Stallbursche folgte ihr und betätigte den Klopfer.
Es dauerte eine Weile, bis geöffnet wurde. »Wer seid Ihr?«, fragte eine hohe
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