Die Herrin der Kathedrale
hier!«
Radegunde schaute verunsichert, fuhr dann aber mit der Memoria fort. »Gott, Herr über Jenseits und Diesseits, beschütze die Seele von Graf Heinrich von Silberburg, eingetreten in Gottes Reich im Jahre 960 nach des Wortes Fleischwerdung.« Die Sanctimonialen wiederholten den Satz. Mit den Gedanken ganz woanders, sprach Uta das Gebet leise mit. So viele Tage weilte sie nun schon hinter den Klostermauern, und ihr Herz brannte nicht minder als am ersten. Selbst der Unterricht im Schreiben und in der geistlich-sittlichen Unterweisung, den die älteste Schwester Klara in Vertretung der abwesenden Äbtissin abhielt, vermochte den Schmerz nicht zu verdrängen.
Nach einigen weiteren Gebeten war Radegunde mit dem Finger im Totenbuch bei dem letzten Verstorbenen des Tagesdatums angelangt. »Gott, Herr über Jenseits und Diesseits, beschütze die Seele von Markgraf Kuno von Wandersleben, eingetreten in Gottes Reich im Jahre 999 nach des Wortes Fleischwerdung.« Schließlich bat sie Gott noch um den gemeinschaftlichen Segen für den Tag und entließ die Sanctimonialen bis zum Gottesdienst bei Sonnenuntergang.
Uta hielt auf ihre Zelle zu, als Alwine im Kreuzgang zu ihr aufschloss. »Kommt, ich möchte Euch etwas zeigen.« Unschlüssig und ohne ihren Schritt zu verlangsamen schaute Uta die Krankenschwester an.
Alwine blickte sich nach den anderen Schwestern um. Als ihr gewahr wurde, dass diese in sicherem Abstand hinter ihnen gingen, fuhr sie fort. »Ich weiß ein Mittel gegen Heimweh.« Alwine bewegte sich in dem Stiftsgewand, als ob reinste Lammwolle ihre Haut streichelte. »Ich hätte Zeit, es Euch zu zeigen. Erst morgen erwarte ich wieder Patienten. Die Krankenkammer ist leer.«
Uta zögerte noch, als Alwine sie bei der Hand nahm und in einen Nebenraum der Krankenstube zog, in dem zwischen Kräutertöpfen und Tiegeln ein Dutzend stämmiger Kerzen lag.
»Hier, nehmt das.« Alwine hielt Uta einen Dolch hin.
Uta ergriff ihn. »Aber Selbsttötung ist Sünde!« Diese Schmach durfte sie der Mutter nicht antun, auch wenn ihr die Aussicht, diesen unsäglichen Schmerz und diese Kraftlosigkeit endlich loszuwerden, nur allzu verlockend erschien.
»Selbsttötung?« Alwine nahm eine Kerze. »Nicht doch. Seht her! Das Wachs ist formbarer als ein Holzstück«, erklärte sie und begann, die Kerze in ihrer Hand im Bereich des Dochtes mit dem Messer einzukerben. »So könnt Ihr Euch ganz einfach das schnitzen, was Ihr gerne sehen möchtet. Den lieben Gott oder den heiligen Cyriakus zum Beispiel.«
Uta tat einen Schritt auf Alwine zu.
»Das Gesicht ritze ich am Schluss nur mit der Messerspitze ein«, fügte Alwine hinzu.
Uta folgte den flinken Schnitzbewegungen Alwines eine Weile, ohne ein Wort zu sagen, und nahm schließlich auf einem Hocker Platz.
»Vielleicht mögt Ihr das gelbfarbene Wachs«, sagte Alwine nach einiger Zeit. »Es leuchtet so schön.«
Uta griff nach einer der Kerzen. Mit groben Schnitzern begann sie, erste Flocken abzuhobeln – Hidda hatte eine schlanke Gestalt besessen. Als sich das Wachs in ihren Händen formte, sah sie sich vor dem Kamin wieder an die geliebte Mutter geschmiegt; sie genoss deren Umarmung und zog auch Hazecha zu sich heran. Als die Glocken bei Sonnenuntergang läuteten, betrachtete Uta die honiggelbe Wachsfigur vor sich: Sie maß eine ganze Handlänge und besaß bis zu den Fußspitzen wallendes Haar. Auf der Höhe der Brust hatte sie ein Herz modelliert, das mit dem friedvollen Blick im Gesicht der Mutter eine Einheit bildete.
»Liebe Schwestern«, begann Äbtissin Hathui, während sie einer Sanctimonialen nach der anderen ins Gesicht schaute.
»Heute möchte ich Euch an ein besonderes Werk heranführen.« Es war ungewöhnlich, dass die Äbtissin die Unterweisung, die an jedem dritten Tag stattfand, sofern dieser nicht auf den heiligen Tag des Herrn fiel, nicht mit dem Abfragen der lateinischen Psalmen begann. »Was ich hier in meinen Händen habe, ist die Abschrift des Leviticus-Kommentars.« Uta schaute von ihrem Psalter auf.
»Geschrieben wurde der Kommentar von dem Fuldaer Abt und späteren Erzbischof Hrabanus Maurus. Er hat Stichworte aus dem dritten Buch Mose aufgenommen und diese in unserer Sprache gedeutet. Der Kommentar behandelt lebensnahe Themen, von denen junge Damen vor der Ehe Kenntnis erlangen sollten«, fuhr die Äbtissin fort und schlug den Buchdeckel auf dem Stehpult vor sich auf. »Welche Themen könnten das sein?«
Bebette und Notburga kicherten
Weitere Kostenlose Bücher