Die Herrin der Kathedrale
Euren um Längen, gut messbar an der Umzäunung einer P-f-e-r-d-e-k-o-p-p-e-l!«, sagte die Krankenschwester und wandte sich zum Gehen.
Notburga warf ihr einen wütenden Blick zu und wollte gerade etwas erwidern, als die Äbtissin eingriff. »Schwester Uta, setzt Euch doch zu mir«, bat sie. »Und Ihr, Schwestern, studiert das dritte Buch Mose. Streit ist Sünde, vergesst das nicht. Notburga, Euch bitte ich vor dem Abendgebet in meine Kammer.« Trotz der eindringlichen Worte verrieten Hathuis Augen nie etwas anderes als Gutmütigkeit und Geduld. Notburga fixierte Uta ein letztes Mal und folgte dann Bebette, die bereits auf den Gang mit den persönlichen Zellen zuhielt.
»Schwester«, sagte die Äbtissin mit sorgenvoller Stimme und trat vor Uta. »Sagt mir doch, was Eure Gedanken so fern unseres Gesprächs über die Keuschheit weilen ließ.«
»Verzeiht, Schwester Hathui, werte Äbtissin«, brachte Uta verlegen hervor und senkte schuldbewusst den Blick.
»Ich wünsche, dass Ihr ehrlich zu mir seid«, sagte die Äbtissin, setzte sich auf einen Hocker neben Uta und ergriff deren Hand.
Uta ließ es geschehen. »Eure Frage war zu schwierig für mich.«
»Dann mögt Ihr also keine schwierigen Fragen?« Uta hielt ihren Blick weiterhin gesenkt.
»Das verwundert mich.« Die Äbtissin lächelte. »Ich erinnere mich noch sehr gut an die Worte Eurer Mutter.«
Wie vom Blitz getroffen, blickte Uta auf.
»Sie hatte mich im vergangenen Jahr zu Beginn des Frühjahres hier aufgesucht. Dabei erzählte sie mir, wie aufgeweckt Ihr seid und dass Ihr beständig Fragen stellen würdet. Sie bat mich deshalb auch, im Unterricht genau diese Neigung besonders zu fördern. Ihr seid zwar ein knappes Jahr früher als abgesprochen gekommen, aber das sollte Euch nicht grämen. Eurer Mutter ist es wahrlich schwergefallen, sich von Euch zu trennen.«
Uta meinte, plötzlich den Geruch Hiddas, ein wenig Narzissenduft und etwas Milch, wahrzunehmen.
»Meine Frage vorhin in der Unterweisung hätte wohl keine der Schwestern richtig beantwortet. Da kann ich Euch beruhigen.« Hathui begann, Utas kalte Hände zu streicheln. »Ich bin mir sicher, dass Ihr eine gelehrige Schülerin wäret, wenn Ihr dem Unterricht nur aufmerksamer folgen würdet.«
»Mutter …«, war das Einzige, was Uta zu ihrer Verteidigung hervorbrachte. »Ich vermisse sie so sehr«, brach es dann aus ihr heraus, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ich ertrage die Tage ohne sie nicht.«
Die Äbtissin nahm sie in den Arm. »Ich weiß, Kind«, meinte sie tröstend. »Aber Trauer gehört zum Leben dazu. Dieses Gefühl könnt Ihr nur dann vermeiden, wenn Ihr Euch der Nähe und der Liebe verschließt. Und das sollte niemand tun.«
Uta verharrte in Hathuis Armen.
»Einen geliebten Menschen zu Gott gehen zu lassen, ist immer schwer, denn wir wissen, dass dieser Mensch damit für immer aus unserem Leben verschwindet. Deswegen halten wir auch krampfhaft an ihm fest und wollen nicht Abschied nehmen. Aber Abschied nehmen ist wichtig, denn erst wenn wir unseren Verlust akzeptieren, beginnt der Heilungsprozess, und wir können in unser Leben zurückfinden.« Hathui streichelte Uta über den Rücken. »Gott sorgt für das Wohlergehen der Seele Eurer Mutter, und gleichzeitig wird diese immer über ihre Lieben wachen.«
Uta schluchzte. »Aber es schmerzt so schrecklich.«
»Seid beruhigt. Eure Gefühle sind ganz normal. Unsere erste Reaktion auf einen Verlust ist zunächst meist ein Lähmungszustand, in dem wir nicht wahrhaben wollen, was passiert ist. Dann, wenn etwas Zeit vergangen ist, begreifen wir, dass wir die Nähe und Liebe des geliebten Menschen nicht wiederbekommen werden. So verfallen wir in Trauer, Zorn, Einsamkeit und Verzweiflung. Auch ich glaubte einst, meine Trauer würde nie aufhören.« Sie seufzte bei diesen Worten. »Das Loch, in das ich durch den plötzlichen Tod meines angetrauten Siegfrieds gestoßen wurde, glich einer bodenlosen Grube.«
Uta löste sich von Hathuis Schulter und schaute auf. All diese Gefühle glichen den ihren haargenau. Zum ersten Mal betrachtete sie die Frau vor sich eindringlicher. Hathuis Gesicht war hager. Unzählige Falten umgaben Augen und Mund, doch nie wirkte sie müde oder kraftlos, und ihre Augen funkelten vor Leben.
»Aber glaubt mir, Kind, es ist möglich, wieder neuen Lebensmut zu finden. Fangt endlich an, mir und den Büchern die vielen Fragen zu stellen, von denen Eure Mutter mir berichtete. Wir werden nichts unversucht
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