Die Herrin der Kathedrale
lassen, Antworten darauf zu finden.«
Antworten! ging es Uta durch den Kopf. Mit der Aussicht, Gerechtigkeit zu suchen und zu finden, hatte sie ihren neuen Lebensabschnitt in Gernrode begonnen und war dann vom Schmerz des Verlustes ins Reich der Gleichgültigkeit und Untätigkeit hineingezogen worden.
»Ich hätte da auch schon eine Aufgabe für Euch.«
Mit dem Schleier wischte sich Uta die Tränen fort.
Die Äbtissin lächelte zufrieden. »Findet Euch morgen nach dem Mittagsmahl im Hof ein.«
Die Kammer, die sich in einem Nebengebäude der Stallungen befand, war so niedrig, dass sie kaum darin zu stehen vermochten. Aus den grob verputzten, aufgeplatzten Wänden hing das Stroh büschelweise heraus und ließ die Kälte der letzten herbstlichen Nächte ins Innere der Kammer dringen. In einer Ecke des fensterlosen Raumes stand ein Tisch, von dem ein beißender Geruch ausging, daneben ein Pult, das ebenso ätzend roch. Vor den Wänden standen hohe, mit Tüchern abgedeckte Stapel mit kantigen Ecken.
»Dieser Raum hier soll wieder unsere Schreibstube werden, Schwestern«, verkündete Hathui und hielt den Arm mit dem Talglicht etwas weiter in die Mitte der Kammer. »Kommt doch näher.«
Radegunde, die allerlei Gerätschaften vor der Brust hielt, musste den Kopf einziehen, um sich nicht an dem Deckenbalken zu stoßen, der quer durch die Kammer lief. Uta, mit Pergamenten, Kielen und Tintenfass ausgerüstet, zog die Schultern vor Kälte zusammen und folgte Radegunde. Sie war froh, dieser Tage leinene Beinkleider tragen zu dürfen, die ihnen Schutz vor Kälte und Nässe boten.
»Leider konnte ich mich der hier verwahrten Bücher, Abschriften und Geschenke bisher nicht annehmen, weshalb ich sie erst einmal nur abgelegt und bedeckt habe.« Die Äbtissin reichte Uta das Talglicht und beugte sich zu einem Stapel hinab, um eines der Tücher anzuheben. »Hier arbeitet niemand mehr, seitdem unsere Schwester Siegrid vor vielen Jahren gestorben ist. Sie hatte eine wahre Freude daran, ihre Tinten selbst herzustellen und Abschriften anzufertigen.« Hathui wies auf einige Gefäße, von denen noch immer ein beißender Geruch aufstieg, und wandte sich dann wieder den Stapeln vor sich zu. Uta erkannte mehrere Bücher, die wackelig aufeinanderlagen.
»Euch, Schwester Radegunde, möchte ich bitten, zuerst mit der Säuberung der Pergamente zu beginnen.« Die Äbtissin wuchtete eines der Bücher auf den Arm und reichte es Radegunde. »Die Pergamente sind verstaubt, etwas verdreckt und teilweise feucht.« Hathui schaute sich prüfend in der Kammer um. »Auch werde ich die Knechte bitten, die Wände der Kammer wieder mit Stroh zu verfüllen und mit neuem Lehmputz zu verstärken, damit die Feuchtigkeit weicht.« Mit diesen Worten zog sie das wackelige Pult zu sich heran und bedeutete Radegunde, das Buch darauf abzulegen. » Liber de cultura hortorum – Von der Pflege der Gärten heißt diese Schrift für die Krankenpflege. Sie stammt von Abt Walahfrid von der Reichenau, einem Schüler des Abtes Hrabanus Maurus«, erklärte sie. »Kaiser Karl hatte zu seiner Zeit ein Gesetz erlassen, welches Klöstern das Anlegen von Kräutergärten und die in ihnen zu züchtenden vierundzwanzig Pflanzenarten vorschrieb.« Hathui Billung lächelte versonnen. Manchmal sah sie in ihren vierundzwanzig Sanctimonialen eben jene vierundzwanzig verschiedenen Kräutlein, die sie zu Blüte und Nützlichkeit bringen durfte. »Und von eben jenen Pflanzen«, fuhr sie fort, »hat Abt Walahfrid das Aussehen und die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten genau niedergeschrieben.«
»Schwester Hathui«, merkte Radegunde unsicher an. »Ich habe noch nie ein Buch gereinigt.«
»Aber Ihr habt gewiss die nötige Handfertigkeit dafür, Schwester«, entgegnete die Äbtissin, lächelte gewohnt zuversichtlich und beugte sich über den Deckel des Buches.
Uta trat näher und stellte das Talglicht auf dem Pult ab. Auf dem rechten Rand des braunen Ledereinbandes erkannte sie eine Pflanze, die aus winzigen, reinweißen Perlen herauswuchs. Ihr Stiel begann zart, wurde dann von einigen Blättern bis zur Blüte hinauf gesäumt, die aus fünf länglichen Blättern bestand und sich sanft, als würde sie vom Wind bewegt werden, auf dem Leder wiegte.
»Wichtig ist, dass die Pergamente trocken werden.« Die Äbtissin strich über den ledernen Deckel. »Frei von Feuchtigkeit wie dieses hier, dem Herrn sei Dank. Es ist nur eine Leihgabe, die ich dem Kloster in Vreden im gleichen Zustand
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