Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Herrin der Kathedrale

Die Herrin der Kathedrale

Titel: Die Herrin der Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Beinert , Nadja
Vom Netzwerk:
Kammer vorhandenen am unscheinbarsten wirkte. Sie zog das Talglicht näher zu sich heran und schlug das Werk mit dem schmucklosen Einband vor sich auf. Die zweite Seite enthielt eine Einleitung. »Dreihundert Jahre nach der Niederschrift der salischen Gesetze durch den erlauchten König Chlodwig I. wurde von Kaiser Karl eine Überarbeitung der Gesetze vorgenommen.« Wie gewohnt las Uta nicht stumm in Gedanken, sondern im Flüsterton, denn die Wörter auszusprechen war eindringlicher. Auf diese Weise brannten sie sich fest in ihr Gedächtnis ein. »Kaiserliches Anliegen war es, die gültigen Rechtsbestimmungen zu erneuern und Widersprüche bei bestehenden Gesetzen zu entfernen.« Das musste die Handschrift sein, die Radegunde am Todestag der Äbtissin erwähnt hatte! Fasziniert zog Uta das Buch noch näher an ihre Brust heran. Sie erinnerte sich, ein Buch mit dem Titel Über die Anwendung des salischen Rechts Kaiser Karls in die Archivliste aufgenommen zu haben. Aber weder die roten Initialen noch die hauchdünnen, sicherlich mehr als zweihundert Pergamentseiten meinte sie, jemals zuvor in Händen gehalten zu haben. Sollte ihr die Anmut des Perleneinbandes vom Hortulus, dessen Rückgabe sie in Vertretung der Verstorbenen Äbtissin nach Vreden veranlasst hatte, den Blick für andere Inhalte versperrt haben? Uta las weiter. »Mit den Gesetzen bezweckte die Kaiserlichkeit, das Fehdeverhalten durch materielle Sühneleistungen zu ersetzen. Im Zuge der Reformierung wurden Kaiserboten durch das Reich geschickt, um etwaige Widersprüche im bisherigen Recht ausfindig zu machen. Die Änderungen der vorliegenden Schrift wurden auf einer Versammlung in Aachen unter Mitwirkung der Herrschenden und unter Leitung Kaiser Karls erörtert, verabschiedet und anschließend im Reich verkündet.«
    Sachte blätterte Uta mit der Fingerspitze zur nächsten Seite, die eine Übersicht der kommentierten siebzig Titel zeigte, darunter Verfahrensabläufe, Straftatbestände und als Wergeld bezeichnete, vom Richter festgesetzte Strafgeldzahlungen. Auf den folgenden Seiten las sie vom Schweinediebstahl, von der Ladung und vom Fehdewesen. Zielstrebig blätterte sie dann zum Kapitel über Ankläger und Angeklagte: »Die Höhe des für Tötung zu zahlenden Wergeldes bemesse sich unter Berücksichtigung der Stellung und der Ahnenlinie des Opfers. Es wird die Möglichkeit geschaffen, Werschulden in Naturalien zu begleichen.« War ein Getöteter denn wirklich weniger wert, nur weil er als Unfreier geboren worden war? Die nachfolgenden Zeilen ließen Utas Puls schneller schlagen.
    »Anzuklagen vermag, wem Unrecht widerfahren ist. Er soll vor seinen König treten und vorbringen, was geschah.« Uta schaute auf. Ihrer Mutter war Unrecht widerfahren, und ihre Aufgabe war es, Anklage zu erheben. Das bestätigten diese Zeilen. Aber wie sollte sie das nur bewerkstelligen? Konnte das Königsgericht ihr helfen? Hoffungsvoll richtete sie ihren Blick wieder auf das Pergament. »Das Recht zur Anklage stehe jedem freien Manne zu. Ein Weib erfahre durch die Anklage desjenigen Gerechtigkeit, dem die Muntgewalt über sie gebührt. Ein Weib alleine ist nicht rechtsfähig.« Uta schoss hoch, so dass das geöffnete Buch mit den Buchseiten zuunterst auf dem Boden landete. Gerade war sie einer Antwort auf ihre Frage so nahe gewesen, und jetzt sollte sie überhaupt nicht anklagen dürfen, nur weil sie mit einer schmalen Taille und Monatsfluss gesegnet war? Es durften nur Männer anklagen? Vor ihr erschien das verbissene Gesicht des Vaters, der die Muntgewalt über sie besaß. Niemals würde sie den ihr per Gesetz vorgesehenen Fürsprecher von einer Anklage gegen sich selbst überzeugen können! Erschrocken blickte sie auf das Buch auf dem Boden, wollte es aufheben und einige umgeknickte Pergamentseiten wieder glätten, doch etwas hielt sie zurück.
    Da betrat Klara die Schreibstube und erblickte Uta, deren Augen sich vor Entsetzen geweitet hatten. »Geht es Euch gut? Ihr seht so blass aus.«
    Uta schwieg, war immer noch zwischen der Sorgfaltspflicht für das Buch und ihrem Entsetzen angesichts des ihr so widersinnig erscheinenden Gesetzes hin- und hergerissen.
    »Die Äbtissin bat mich, Euch zu ihr zu schicken«, sagte Klara. Uta nickte nur. Sie sah, dass einige Buchseiten unter dem Gewicht der schweren Buchdeckel zu brechen drohten.
    »Schwester Uta?«
    »Verzeiht Schwester, meine Gedanken waren bei …« Uta biss sich auf die Zunge und löste ihren Blick von dem Buch. Ihre

Weitere Kostenlose Bücher