Die Herrin der Kathedrale
Hannover eine vortreffliche Kennerin höfischer Dichtung und Lieder und schließlich Uta – die Archivarin und Vorleserin.
»Mechthild, was meint Ihr?«, fragte Gisela, während ihr Blick Utas Taille begutachtete.
Das Mädchen mit dem hellbraunen Haar und der frech aufsteigenden Stupsnase trat neben die Herzogin. »Die Bordüre gefällt mir besonders gut, Hoheit.«
»Ich danke Euch«, sagte Herzogin Gisela an zwei Näherinnen gewandt, die nahe der Tür standen und auf der Konradiner Burg für die Gewänder zuständig waren. »Ihr dürft gehen.«
Die beiden knicksten und verließen die Kemenate.
»Hoheit?«, fragte Adriana, mit der sich Uta die Kemenate teilte, und trat mit prüfendem Blick als Dritte im Bunde hinzu. »Was machen wir mit dem Schleier?«
Erschrocken ergriff Uta die Enden ihres Schleiers und schaute die Herzogin unsicher an.
»Der gehört zu ihr«, antwortete die Herzogin ruhig und nickte den Hofdamen zu.
Uta schaute scheu zu Boden. »Danke, Hoheit.«
Da trat Grethe vor einen Stapel mit allerlei Stoffen und zog einen hellgrünen Damast heraus. »Vielleicht könnten wir dann einen zweiten Schleier aus diesem Stoff fertigen lassen?«, schlug sie vor.
Daraufhin erhob sich Elisabeth, die Pummeligste unter den Mädchen, nahm Grethe den Stoff aus der Hand und trat zu Uta, um den Damast an deren Hals zu halten.
Uta lächelte die Herzogin an, die gerade das farbliche Zusammenspiel des grünen Kleides mit dem hellgrünen Schleier prüfte und dann kurzentschlossen nach einem weiteren, durchsichtig schimmernden Seidenstoff griff, der mit Goldfäden durchwirkt war.
»Wartet, Hoheit«, bat Uta daraufhin.
Die Umstehenden blickten sie fragend an.
»Ich glaube«, begann sie und glitt mit den Fingerkuppen über die Enden des Schleiers auf ihrer Brust. »Ich glaube, den benötige ich nicht mehr.« Sie löste den Schleier und zog ihn sich vom Kopf. Das Haar, das während der vergangenen eineinhalb Jahre im Kloster noch kräftiger geworden und ihr weit über die Taille gewachsen war, fiel ihr lose ins Gesicht. Mit dem für sie neuen Gefühl, auch ohne Schleier beschützt zu sein, schloss Uta die Augen und sprach leise: »Ich danke Euch Mutter und auch Euch, Schwester Hathui, für Euren Schutz.« Nach einem Moment des Schweigens öffnete sie die Augen wieder. Die Hofdamen und die Herzogin schauten sie verständnisvoll an. Uta bot einen Anblick beschützenswerter Zerbrechlichkeit und großer Kraft zugleich. Adriana trat vor Uta und legte ihr einige Haarsträhnen vom Rücken auf die Brust. »Ihr seid sehr schön, Uta.«
Herzogin Gisela nickte und reichte Uta eine Bordüre mit Kreuzmuster. »Bindet Euch den Gürtel noch um! In den nächsten Tagen werden Euch drei weitere Gewänder zur Anprobe gebracht. Der Umhang mit der Stickerei wird wohl schon morgen fertig sein.«
»Ich danke Euch sehr, Hoheit«, beeilte sich Uta zu versichern, knickste und ergriff den Gürtel. Mit einem Blick auf die Taille von Adriana band sie sich den Bordürengürtel um.
»So. Jetzt seid Ihr vollständig und entlassen«, sagte die Herzogin und gab auch den anderen Hofdamen ein Zeichen, mit ihr zusammen die Kemenate zu verlassen. »Beinahe hätte ich es vergessen«, wandte sie sich im Hinausgehen jedoch noch einmal um. »Wie kommt Ihr in der Schreibstube voran? Ich würde gerne heute Abend die erste Kostprobe Eures Könnens würdigen.«
Uta überschlug die Arbeit, die sie heute noch schaffen könnte. Herzogin Gisela hatte ihr zunächst die Aufgabe übertragen, die vielen Schriften zu sortieren, die auf der Burg herumschwirrten, nachdem es ihr viel zu lange gedauert hatte, ein bestimmtes Pergament wiederzufinden. Gleich am Tag ihrer Ankunft hatte Uta ihre Pflicht in der herzoglichen Pergamentenkammer angetreten und mit der Erstellung der ersten Inventarliste begonnen. Mittlerweile füllte der Bestand an Schriften bereits die obere Hälfte einer zweiten Liste. »Ich kann Euch am heutigen Abend die ersten Listen vorlegen, Hoheit.«
»Das freut mich.« Gisela lächelte zuversichtlich, während die anderen Hofdamen an ihr vorbei aus der Tür traten. Für die Archivierung hatte sie nicht irgendeinen Schreiberling einsetzen wollen. Mit Uta wusste sie eine Vertraute in der Pergamentenkammer, die sehr wohl in der Lage war, das in den Schriften enthaltene Gedankengut zu verstehen und wiederzugeben. Sie hatte das Glitzern in den Augen des Stiftmädchens gesehen, als es ihr im Sand des Quedlinburger Gewölbes kniend sein Wissen über die
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