Die Herrin der Kathedrale
fest?«
»Es gibt leider noch andere Zählweisen, Hoheit. Die zweitstrengste Zählweise ist die kanonische Zählweise«, erklärte ihr Uta weiter. »Sie rechnet mit Generationen anstelle von Zeugungsschritten. Dabei wird der Generationenabstand lediglich zum gemeinsamen Vorfahren hinaufgezählt.« Uta zeigte erneut auf die Linie der Herzogin im Sand. »Somit würden Eure Hoheiten im vierten Grad miteinander verwandt sein. Bei einer unterschiedlichen Anzahl von Generationen zum gemeinsamen Vorfahren hinauf wird nämlich der kürzere Weg als maßgeblich betrachtet.«
»Die kanonische Zählweise verkürzt die Grade der Verwandtenehe dramatisch«, sagte Gisela.
Uta nickte gleich mehrmals hintereinander und sah die heimelige Gernroder Schreibstube wieder vor sich, die vielen Bücherstapel, darunter den Leviticus-Kommentar des Abtes Hrabanus Maurus über Inzest. »Kaiser Heinrich wandte die strengste der möglichen Zählweisen an, als er Eure Ehe mit dem dritten Verwandtschaftsgrad bezifferte. Die entspricht der alten germanischen Zählweise, in der Eltern und Kinder als Einheit und nicht voneinander getrennt gezählt werden, Cousins und Cousinen demnach im ersten Grad miteinander verwandt sind.«
»Für den Herzog und mich bedeutet dies, dass wir im dritten Grad verwandt sind. Mit der ersten Zählweise allerdings lägen wir außerhalb des siebten Verwandtschaftsgrads.« Giselas Überlegungen folgte ein Lächeln. »Vielen Dank für Euren Hinweis. Ich werde ihn prüfen.«
Uta erwiderte das Lächeln vorsichtig.
»Und nun wünsche ich Euch eine angenehme Nachtruhe, Schwester. Der kleine Herzog verlangt nach Bewegung. Er wird wahrscheinlich einmal ein begeisterter Reiter werden.« Die Herzogin wandte sich zum Gehen.
Und Uta lächelte noch immer.
»Ach, sagt mir noch«, die Herzogin drehte sich noch einmal um. »Ihr seid Uta von Ballenstedt, nicht wahr?«
Uta nickte.
»Ich schließe Euch in meine Gebete ein, Uta von Ballenstedt«, sagte die Herzogin und stieg die Treppen zur Krypta scheinbar leichtfüßig hinauf.
»Vielen Dank, Hoheit.«
Den Rest der Nacht verwandte sie keinen einzigen Gedanken mehr an die Toten. Herzogin Gisela ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Zugleich war ihr bewusst, dass Äbtissin Adelheid ihren Vorstoß nicht für gut befinden würde, sollte sie jemals davon erfahren.
Notburga hob ihr Stiftsgewand und fuhr sich durch das Haar. Sie trug es an diesem Tag offen und über die Schultern hinabfließend, nicht aufwendig geflochten oder hochgesteckt. Sie hatte die Herzogin nie auf eine andere als auf diese besonders weibliche Art frisiert gesehen und fand, dass es auch ihr etwas von jenem Glanz verlieh, der sich seit Giselas von Schwaben Anwesenheit bis in die letzte Ecke des Stiftgebäudes ausgebreitet hatte.
Sie schloss genießerisch die Augen, als das warme Rinnsal ihren Unterleib verließ, um seine Aufgabe zu verrichten. Mit einer an Wollust grenzenden Zufriedenheit presste sie es aus sich heraus und lauschte gespannt. Es knisterte und plätscherte aufregend, als es auf den ungewohnten und harten Widerstand stieß. Es dampfte. Als sie spürte, dass sich die Kraft ihres Strahles verlor, drückte sie fester, so dass ihr die Augen aus den Höhlen zu treten drohten. Im nächsten Moment blickte sie zwischen ihren Schenkeln hindurch in die Tiefe des Abtrittslochs. Sie grinste zufrieden, als sie die nassen Pergamente in der Schachtableitung zum Burggraben sah. Niemand würde je wiedersehen, auf was sie gerade uriniert hatte. Notburga von Hildesheim hielt in der Hocke inne. Um nichts in der Welt war sie heute bereit, auch nur einen Tropfen ihres dunkelgelben Morgenwassers zu verschenken. Nicht zu heftig bewegte sie ihren Unterleib über dem Loch des Abtritts. Beinahe schon hingebungsvoll griff sie zum letzten Pergament, das eine gut lesbare Schrift zeigte – dass Uta schnell und noch dazu formvollendet schreiben konnte, musste sie der Rivalin immerhin zugestehen. Sie teilte es in zwei Hälften und wischte sich damit genüsslich die letzten Tropfen von der Innenseite der Schenkel, bevor sie die Pergamenthälften ebenfalls in den Abtrittschacht fallen ließ. Als kein weiterer Tropfen mehr aus ihr herauskam, erhob sie sich und richtete ihr Stiftsgewand. »Herzogin, ich bin für Euch bereit!« Sie ordnete ihr Haar über den Schultern und ging durch den Kreuzgang zum Versammlungssaal.
»Guten Morgen, Schwester«, grüßte Jelenka, die ebenfalls auf dem Weg in den Saal war, um die Herzogin zu
Weitere Kostenlose Bücher