Die Herrin der Kelten
war. Es kam ihr irgendwie nicht richtig vor, dass ein Vogel in das Reich der Götter gegangen war, nur um dann unverrichteter Dinge wieder zurückzukehren. Sie blickte zu Airmid hinüber, in der Hoffnung, mit ihr sprechen zu können, aber das andere Mädchen reagierte nicht, sondern starrte nur mit leeren, ausdruckslosen Augen über das Wasser hinweg. Wer weiß, vielleicht träumte sie ja doch. Breaca, die für einen Moment den Atem angehalten hatte, stieß ihn langsam wieder aus und wartete weiterhin geduldig. Diesmal betrachtete sie dabei nicht den Teich.
Jeder Mensch träumt. Noch bevor sie Laufen gelernt hatte, noch bevor sie mehr als nur ihren eigenen Namen und den ihrer Mutter hatte sagen können, hatte Breaca aufmerksam zugehört, wenn andere von ihren Visionen und ihren Träumen erzählten. Sie hatte schon früh begriffen, dass Macha und die ältere Großmutter ihre Zeit mit Visionieren verbrachten, wenn sie sich in die Einsamkeit zurückzogen, um danach mit geistesabwesendem Blick und den Worten der Götter auf den Lippen zum Rundhaus zurückzukehren, wohingegen ihre Mutter Träume hatte: farbige, intensive, lebhafte Träume von großer Bedeutung für ihr Leben und ihre Familie. Fast zur gleichen Zeit war Breaca klar geworden, dass sie sich die Visionen weitaus mehr wünschte als die Träume - und dass die Götter einem diesen Wunsch weitaus weniger oft gewährten.
Dreimal seit der Zeit, als sie alt genug gewesen war, um die Natur dessen, was da geschah, zu verstehen, waren Mädchen ihres Stammes ausgezogen, um drei lange Nächte in einsamer Abgeschiedenheit zu verbringen und bei ihrer Rückkehr von ihren Träumen zu berichten. Die Schwestern Camma und Nemma waren jeweils in zwei aufeinander folgenden Jahren fortgegangen und hatten anschließend erzählt, dass ihnen die weiße Gans beziehungsweise das Reh im Traum erschienen war. Camma, die einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, Hail von den Bratpfannen zu verscheuchen, war früher ein zerstreutes, geistesabwesendes junges Mädchen gewesen, das den Blick stets auf einen anderen Horizont gerichtet hatte, aber die Mutterschaft hatte sie gelehrt, die Wahrheit ihres Traumes zu erkennen, und sie beschützte ihre zwei Kinder mit einer Grimmigkeit, die dieser Erkenntnis durchaus würdig war. Nemma, ihre Schwester, hatte von der Rehgeiß geträumt, aber es wäre auch überraschend gewesen, wenn es anders gewesen wäre. Von frühester Kindheit an war sie den Fährten des Rotwilds gefolgt, hatte abgeworfene Geweihstangen gesammelt und aus den Fellresten der erlegten Tiere kleine Figuren in Form von Rehen und Hirschen genäht. Einmal hatte sie einen ganzen Sommer hindurch ein verwaistes Hirschkalb aufgezogen, indem sie ihm Stutenmilch eingeflößt und ihm beigebracht hatte, auf Zuruf zu ihr zu kommen; und jetzt fütterte sie es in harten Wintern noch ebenso regelmäßig, wie sie die Pferde fütterte. Sinochos und die anderen Jäger kannten die Spuren des Tieres und wussten, dass es auf ihre eigene Gefahr geschah, wenn sie ihm auch nur ein Härchen krümmten.
Nemma und Camma waren die Ersten gewesen, die Breaca von ihrer Traumreise hatte zurückkehren sehen. Keine der beiden jungen Frauen war außergewöhnlich; jede war zufrieden mit ihrem Traum, und jede bezeugte der Gans oder dem Reh zu den festgesetzten Tagen und Zeiten den gebührenden Respekt, und hängte einen Talisman in Form einer Feder beziehungsweise eines Hinterfußes an der Wand über ihrem Schlafplatz auf, der als Schutz vor Unheil dienen sollte. Es war Airmid - die sonderbare, hoch gewachsene, dunkelhäutige, dunkelhaarige Airmid -, die anders war. Sie war diejenige, die sich wie eine Schlafwandlerin bewegt hatte, als sie nach dreitägiger Abwesenheit bei Einbruch der Abenddämmerung wieder zur Tür des Frauenhauses hereingekommen und dabei über die im Eingang ausgelegten Steine hinweggetreten war, als ob sie auf Wasser wandelte, ihr Blick verschwommen und weltentrückt, ihr Gesicht von einem Ausdruck ehrfürchtigen Staunens erfüllt, ihr Mund noch immer nicht fähig, die Worte für das zu bilden, was sie in ihrer Vision gesehen hatte. Sie hatte keinen Talisman mitgebracht, sie brauchte auch keine solchen Äußerlichkeiten, um sich an das zu erinnern, was geschehen war; die Götter hatten zu ihr gesprochen, und sie würden es auch weiterhin tun, und was sie gesagt hatten, war für den Rest ihres Lebens bestimmend. Sie war eine Seherin.
Breaca hatte die volle Bedeutung dieser besonderen Gabe zum
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