Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
ungewöhnlich mild: »Du kennst vielleicht die Göttersage um Proserpina. Hin und her gerissen zwischen ihrem Gemahl Pluto, dem Gott der Unterwelt, und ihrer Aufgabe als fruchtbare Blumengöttin in der Oberwelt entschied sie sich, die eine Hälfte des Jahres Ehefrau zu sein, die andere Hälfte Schöpferin. So sind die Jahreszeiten entstanden.«
Wieder trat ein langes Schweigen ein, umweht von nächtlichen Brisen.
»Wäre das nicht ein Modell für uns?«, fragte Hugo irgendwann.
Marocia schloss die Augen, ein beruhigtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ein wunderbares Modell, mein lieber Pluto. Aber die Sage ging anders. Proserpina weilte ein Drittel des Jahres bei ihrem Gemahl und zwei Drittel bei den Blumen.«
»Ich habe die Geschichte umgeschrieben«, gestand er.
Sie wandte sich in seinen Armen zu ihm um. Obwohl kaum eine Handlänge von seinem Gesicht entfernt, sah sie es kaum. Seine Augen, der Mund, die stoppeligen Haare, das starke Kinn, alles war diffus, von der Nacht verschluckt. Aber sie spürte seinen festen Griff, und darin seine Liebe und Nähe.
»Nur Götter dürfen das«, flüsterte sie.
»Ich weiß«, sagte er und küsste Marocia mit einer Heftigkeit wie noch nie zuvor.
28
Anno Domini 928
Im Inneren der kleinen Kapelle von Fontana Liri herrschte graues Halbdunkel, bis ein Wolkenloch dem Licht gestattete, die rote und blaue Bilderwelt der sieben Turmfenster wie durch ein Wunder erstrahlen zu lassen.
»Siehst du«, rief Blanca leise, aber begeistert. »Die Taufe des Johannes, der Gang über die Wasser des See Genezareth, die Verkündigung an die Hirten, die Wunderheilung, die Tröstung Maria Magdalenas . . .« Das plötzlich wieder versiegende Licht unterbrach die Aufzählung der Vita Christi und tauchte die kunstvolle Glasmalerei wieder in unspektakuläres Grau. »Meine Mitschwestern und ich erfreuen uns seit drei Jahren jeden Tag an diesem Geschenk, das du uns anlässlich deiner Krönung zur Königin von Italien gemacht hast. Kaum zu glauben, dass du es heute zum ersten Mal ansehen kannst.«
»Ich wäre gern früher gekommen, Blanca, aber so wenig spektakulär die letzten Jahre auch waren, sie steckten voller Arbeit«, entschuldigte Marocia sich. »Und dann dieser ständige Wechsel zwischen Rom und Pavia. Die Arbeit eines ganzen Jahres muss ich in einem halben machen.«
Blanca fand, dass ihre Halbschwester einerseits so tatkräftig wie noch nie wirkte. Offenbar genoss sie ihre sehenswerten Erfolge beim Auf- und Umbau Roms wie auch ihre königliche Rolle. Andererseits sah sie aber auch angespannt und besorgt aus.
»Wie hast du es geschafft, dich für einen Besuch freizumachen? Kommst du aus Rom?« Sie bot ihr Platz auf einem Schemel an, und als sie sich gemeinsam niederließen, raschelten ihre Gewänder. Die Kapelle war nur wenige Schritte lang und breit, und jedes Geräusch und jedes Wort, so leise es auch war, erfüllte den nahezu leeren Raum. Außer einem schlichten Altar und zwei grob behauenen Heiligenstatuen gab es hier nichts. Ein einziger Kerzenlüster übernahm während der Andachten die Aufgabe, ein wenig Feierlichkeit zu erzeugen, sonst gab es nur Fackeln an den Wänden. Kein Wunder, dass Marocias gestiftete Fenster hier wie die Gabe der Heiligen Drei Könige gefeiert wurden.
»Aus Pavia«, korrigierte Marocia. »Ich nutze jede Gelegenheit, von dort zu entkommen, und jetzt, wo Hugo in die Provence gezogen ist . . .«
Blanca nickte verständig. Louis von Provence, König von Italien und Niederburgund, war am 4. Mai 928 im Schloss von Aix fast völlig unbeachtet nach langem Siechtum gestorben. »Zur Grablegung seines Vaters, nehme ich an.«
»Nun ja, das auch. Aber wie ich ihn kenne, wird er versuchen, seinem jüngeren Bruder Boso die Krone von Niederburgund streitig zu machen.«
»Hast du mir nicht vor einiger Zeit geschrieben«, meinte Blanca stirnrunzelnd, »dass Louis’ Erbe eindeutig geregelt ist? Die Krone für Boso, die Grafschaften für Hugo.«
Marocia lächelte ein wenig mitleidig. »Herzensgute Blanca. Als ob Hugo sich um Testamente kümmerte. Er ist der Mann des Machbaren, und wenn sich ihm eine Möglichkeit bietet, die Krone Niederburgunds
und
die Grafschaften ganz für sich zu bekommen, wird er sie ergreifen.«
»Dein Gemahl scheint Titel zu sammeln, die ihm nicht zustehen«, kritisierte Blanca und spielte damit auf Hugos Politik an, vakant gewordene Landestitel nicht neu zu besetzen. Auf diese Weise hatte er nach Ansgars Tod die Lombardei unter seine direkte
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