Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
ausgiebig zu betrachten.
Die Schmerzen in Ageltrudis’ Brust und der Verlust dessen, was sie als Einziges auf der Welt wirklich liebte, hatten sich fest in ihr Gesicht gegraben. Sogar Johannes spürte ihr Leid. König Lambert, ihr einziger Sohn, war vor einem Jahr bei einem Sturz vom Pferd ums Leben gekommen, und mit ihm waren alle Pläne für eine italienische Herrscherdynastie aus Spoleto ins Grab gesunken. Lange hatte sie sich geweigert, diesen Tod überhaupt anzuerkennen, und nicht aufgehört, ihren Erzfeind Arnulph mit allen politischen und militärischen Mitteln zu bekämpfen. Der Ostfranke hatte sich angeschickt, noch einmal und diesmal endgültig die Königskrone Italiens aus den Händen eines Papstes in Besitz zu nehmen. Doch dann traf die Nachricht von Arnulphs Ableben ein, und so konnte sich auch Ageltrudis endlich Frieden schenken. Heute war der 31. Dezember des Jahres 899. Mit dem Jahrhundert würde auch die Ära der allgewaltigen Ageltrudis zu Ende gehen, und Johannes erwartete dieses neue Jahrhundert, von dem er sich so viel versprach, voller Ungeduld.
Er beugte sich über den hageren, nur mit einer dünnen Wolldecke abgedeckten Körper und hauchte: »Die Mönche singen schon das
Agnus Dei
. Zeit zu sterben, Ageltrudis.«
Ihr Röcheln verstärkte sich. Dreimal atmete sie hektisch ein und wieder aus, ehe sie reagierte. Ihre Hand klammerte sich um die seine, doch nicht um sie zu verletzen, sondern um sie zu streicheln.
Ja, dachte er und fuhr sich durch seine vollen braunen Haare. Darum hatte sie ihn eigens aus Ravenna holen lassen und nicht einen Kardinal oder gar den Papst um die Sakramente gebeten. Sie wollte überhaupt keinen Beistand, sondern noch ein letztes Mal die junge, kräftige Hand eines Liebhabers berühren.
Seit zehn Jahren kannte er Ageltrudis. Er erinnerte sich an den ersten Blick von ihr. Mitten auf einer Feier des spoletanischen Adels hatte sie ihn wie den ersten Mann auf Erden angestarrt. Siebzehn Jahre zählte er, und sie war alt genug, um seine Großmutter zu sein. Er sah zu Boden, unentwegt, doch sie umschlich ihn. Er wechselte den Platz, doch sie kam ihm nach. Er stellte sich zu Freunden, doch sie ließ sich davon nicht aufhalten. Sie ging auf ihn zu und schickte die anderen mit einem einzigen Wort weg. Sie war die Herrscherin Spoletos, und obwohl jeder außer ihm wusste, was gleich geschehen würde, konnte keiner etwas dagegen tun – und wollte es auch nicht. Sie drückte ihm einen Weinkelch in die Hand.
»Trink das.«
»Ich will nicht.«
»Dann tu so, oder sollen die anderen dich für einen Weichling halten? Sie sehen schon alle herüber.«
»Euretwegen.«
»Ich hasse Bescheidenheit. Deine Schönheit ist es, der sie sich nicht entziehen können. Die Frauen begehren dich, und die Männer beneiden dich. Bei manchen ist es auch umgekehrt.« Dann lachte sie derart heftig, dass sich der halbe Wein aus dem Kelch über ihre Hand ergoss. »Wisch es ab«, befahl sie ihm mit ernster Miene. Er zögerte. »Hast du mich nicht verstanden? Wisch es ab, sofort. Mit deinem Gewand.«
Er wollte es gerade tun, als sie ihn abhielt. »Nein, warte. Ich habe eine bessere Idee. Lecke es ab!«
»Ich soll . . . Nein, das mache ich nicht.«
»Es gibt zwei Möglichkeiten. Du tust, was ich sage, und ich ernenne dich zum . . . Was nehmen wir denn da? Hm, ich glaube, für dich kommt nur ein geistliches Amt in Frage. Bischof. Wie klingt das?«
»Nur der Papst und der König können geistliche Ämter vergeben.«
»Deine Naivität reizt mich noch mehr«, erwiderte sie. »Bischof also, es bleibt dabei. Tust du dagegen nicht, was ich wünsche, wirst du es schon bald bitter bereuen, mein schöner, herrlicher Adonis.«
Johannes ekelte es noch heute, wenn er an die Nächte mit ihr dachte, seine ersten so genannten Liebesnächte überhaupt. Mit ihren knöchrigen Fingern streichelte sie seinen jugendlichen, makellosen Körper, mit ihrem alten, schrumpeligen Mund küsste sie seine Brust ab, und ihr drohender, gieriger Blick saugte sich immer wieder an seinem Gesicht fest. Sie hielt ihr Versprechen und machte ihn zum Erzbischof von Ravenna. Bald darauf musste er sogar mit ihr schlafen, aber den versprochenen Kardinalshut verweigerte sie ihm am nächsten Morgen grinsend. Mehr noch, sie gab ihm zu verstehen, dass sie seiner überdrüssig sei, machte sich über seine jugendliche Ungeschicklichkeit lustig und schickte ihn fort wie einen dummen Buben.
Diese Mänade! Nun lag sie vor ihm wie ein gestrandetes
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