Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
allen Richtungen um. Sie spazierten langsam durch den Säulengang des
peristyl
s und genossen die milde Luft des Frühlingsnachmittags. Die Sträucher grünten bereits, und das dunkle Violett der Irisblüten breitete sich wie ein Teppich über den Garten. Es gab kaum einen besseren Ort, um einen Unterricht abzuhalten, aber auch kaum einen schlechteren, um brisante Fragen zu stellen. Hinter jeder Säule, hinter jeder Tür konnte sich ein Paar Ohren verstecken.
»Nun?«, forderte er sie nochmals zur Antwort auf.
Marocia hätte ihm leicht entgegnen können, was die meisten über Byzanz dachten. Das Imperium war reich, mit Schatzkammern voll Gold, prächtigen Kathedralen und wunderbaren Kunstschätzen; doch nicht allein darauf beruhte seine Macht. Als letztes Relikt und einzig anerkannter Nachfolger des vor Jahrhunderten von der Völkerwanderung zerschmetterten römischen Imperiums besaß es zudem eine ungeheure kulturelle Strahlkraft. Überall baute man byzantinisch, malte byzantinisch, zahlte mit byzantinischen Münzen, und die Kaufleute kannten fast ausschließlich Byzanz als Handelspartner. Selbst wenn das Imperium die burgenstarrenden Kolonien im Süden Italiens nicht besessen hätte, würde man sich seinem Willen also gebeugt haben.
Statt aber alle diese erdrückenden Machtfaktoren zu berücksichtigen, antwortete Marocia nach einem nochmaligen Blick über die Schulter: »Man spricht schon vom niedergehenden Stern der Byzantiner, vom Ende einer Epoche.«
Pater Bernard war nicht überrascht. Er stopfte seine Hände in die Ärmel der Kutte und fragte schmunzelnd: »Man? Wer ist denn ‹man›?«
Wieder zögerte sie einen Moment, bevor sie gestand: »Ich.«
Pater Bernards Lächeln legte die Zähne frei, was selten vorkam, und er schickte ein stummes, aber dankbares Stoßgebet zum Himmel. Schon lange hegte er die Ahnung und Hoffnung, dass seine Schülerin eine Abneigung gegen das Imperium und seine Verbündeten in Italien empfand. Trotz der schrecklichen Ereignisse in Marocias früher Kindheit war dieses Gefühl in ihr nicht selbstverständlich. Viele andere Kinder, die ebenso Leichensynode, Aufstände, Hinrichtungen und Morde miterlebt hatten, würden gewiss treue Gefolgsleute der byzantinischen Fraktion werden. Dieses Mädchen nicht! Das barg jede Menge guter Aussichten für Marocias Seelenheil. Es barg aber auch Gefahren.
»Und was begründet deine Ansicht?«, fragte er so neutral wie möglich.
»Byzanz zerstört nur noch, es baut nichts mehr auf. Es scheint mir irgendwie . . . rückwärts zu denken. Außerdem schrumpfen seine Grenzen. Außer Hellas, dem Gebiet am Bosporus bis Trapezunt und den Provinzen auf italischem Boden ist alles in den letzten einhundert Jahren an die Bulgaren und die ungläubigen Sarazenen verloren gegangen.«
Das klang sehr vernünftig, musste Pater Bernard einräumen, und so nickte er ihr zu. Doch diese kluge Erkenntnis Marocias offenbarte nur einen Teil, ja nicht einmal die Hälfte ihrer Einstellung, glaubte er. Nein, Marocia lehnte Byzanz nicht einfach ab, sie verabscheute es. Alles, was einem Kind teuer war, hatte sie seinetwegen verloren: den Vater, der seine Fügsamkeit seit Jahren im Wein ertränkte; die Mutter, die in ihrer Gier kein Halten kannte. Aber sprach sie je darüber? Alle diese Gefühle blieben in ihrem Herzen verborgen, wo die Gefahr bestand, dass sie erstarren würden. Dann, so glaubte Pater Bernard, würde sie wie ihre Mutter werden. Dies war seine größte Angst.
Sie setzten sich auf den Rand des runden Brunnens im
peristyl
. Das Wasser plätscherte leise einen behauenen Stein hinunter, der die Form eines großen Fisches hatte. Marocia schöpfte mit der hohlen Hand ein wenig von dem kühlen Nass aus dem Becken und verteilte es in langsamen, streichenden Bewegungen auf Wangen, Stirn und Hals. In diesem Moment bemerkte Pater Bernard, dass Marocia kein Kind mehr war. Ihre Bewegungen waren fraulich, körperbetont, sie erinnerten ihn an seine eigene Jugend, als die Landmägde sich auf die gleiche Weise an Bächen von der schweren Arbeit erfrischten. Mit einem Mal bemerkte er auch die Konturen der Brust und der weichen Hüften, die von dem erdbeerroten Seidenkleid mehr betont als verhüllt wurden. Sogar ihre offen getragenen schwarzen Haare verloren in seinen Augen nun die kindliche Unschuld und wandelten sich zu einem Kennzeichen der Sinnlichkeit.
Ihn selbst machte diese Entwicklung mehr verlegen, als sie ihn ansprach, doch anderen schien es nicht so zu gehen, wie
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