Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
er bei einem Blick in die Schatten des Säulengangs feststellen musste. Dort stand Kardinal Johannes, fuhr sich durch die Haare und starrte unentwegt auf Marocia mit einem Blick, den Pater Bernard schon oft bei anderen Geistlichen gesehen hatte und der nichts Gutes versprach. Er runzelte, so stark es ihm möglich war, die Augenbrauen und nickte ihm höflich zu. Daraufhin verschwand Johannes.
»Ihr seid so still«, stellte Marocia fest, die den Geliebten ihrer Mutter nicht bemerkt hatte.
»Nun ja . . .«, stammelte Pater Bernard und zwang sich zur Konzentration. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach richtig, deine Theorie des Niedergangs von Byzanz. Du solltest berücksichtigen«, gab der Pater zu bedenken, »dass ein Stern in der Geschichte der Welt erst dann vollends versinkt, wenn zeitgleich ein anderer aufgeht. Siehst du einen?«
Marocia grübelte. »Wenn unser König, Louis von Provence, nicht so infam geblendet worden wäre und wenn die deutschen Herzogtümer im Ostfrankenreich untereinander nicht so zerstritten wären, dann könnten sie mit vereinten Kräften die Byzantiner von der Halbinsel vertreiben. Aber so: Sachsen, Schwaben, Bayern, Kärnten, Thüringen, man kann sie gar nicht zählen. Und jedes Land mit eigenem Herzog, der macht, was er will. Sie sind wie wir: ein Land wie ein Mosaik.«
»Wenn«, erwiderte Pater Bernard. »Kein ‹Wenn› hat je ein Imperium zu Fall gebracht.«
Sie seufzte, stützte ihre Hände auf dem Stein ab und sah in den Himmel, der an diesem Tag ganz von der Sonne und Dutzenden hoch fliegenden Schwalben beherrscht wurde. Irgendwo zirpte eine einsame Grille, und Marocia gab sich diesem Geräusch, das ihr eine merkwürdige Ruhe und Innerlichkeit schenkte, für eine Weile ganz hin. Dann fragte sie: »Wer, sagtet Ihr, ist der jetzige König im Ostfrankenreich?«
»Ein Kind, dem die deutschen Fürsten nicht gehorchen«, antwortete Pater Bernard.
Es war ein Jammer, dachte Marocia. Die deutschen Herzöge gehorchten nicht ihrem Kind, und die Italiener nicht ihrem Blinden. Wofür krönten die Deutschen und die Italiener Könige, wenn sie ihnen dann nicht folgten? Der Schlüssel waren die Päpste. Auf sie hörte die Welt, so korrupt sie auch waren. Wenn das Papsttum die Herrscher diesseits und jenseits der Alpen sichtbar stärkte, würden die Teilstaaten hier wie dort ihren Ungehorsam langsam aufgeben. Italiener und Deutsche würden sich gegenseitig stützen, und eine neue Ära könnte beginnen, ein neues Reich entstehen, mit einem abendländischen Kaiser an der Spitze, der das alte, überkommene Imperium hinwegfegen würde. Da Marocia die Nächte mehr denn je leer vorkamen, da sie sich nach etwas sehnte, das sie selbst nicht beschreiben konnte, blieb ihr nur dieser Traum eines neuen Imperiums, und manchmal trug sie darin sogar dessen Krone.
Pater Bernard blickte unterdessen in einen anderen Winkel des
peristyl
s und entdeckte erneut den Kardinal. Diesmal vermochte er ihn nicht zu vertreiben. »Hast du . . .«, begann er, jedes Wort wägend, »hast du schon einmal daran gedacht, dein Leben ganz dem Studium zu verschreiben, mein Kind?«
Diese Frage kam der tagträumenden Marocia wie ein Pfeil vor, der sie vom Himmel schoss. Ganz dem Studium verschreiben war doch nichts anderes, als eine Braut Gottes zu werden, in einem Kloster zu leben. Bis vor kurzem war den Frauen zwar dieser Weg versperrt geblieben, aber Marocia hatte von einigen Fällen im Ostfrankenreich gehört, wo Klöster für Adelstöchter gegründet wurden, die von ihren Vätern in die Obhut des Herrn gegeben wurden – gleichsam als Opfergabe. Für viele Männer – auch Geistliche – war das ein äußerst gewöhnungsbedürftiger Gedanke, aber der Verweis der Befürworter solcher Frauenklöster, auch die Schwester des heiligen Benedikt, die Scholastica, habe ihr Leben ganz dem Wirken des Bruders und der Liebe zum himmlischen Vater gewidmet, besänftigte die Gegnerschaft.
In diesen Klöstern war es den Nonnen vergönnt, theologische und philosophische Schriften zu studieren und damit in den Genuss eines Privilegs zu kommen, das fast überall sonst nur den Männern vorbehalten war. Doch Rom war anders. Die Erziehung der hiesigen Kinder der Edlen war aus Tradition umfangreicher als sonstwo. Hier waren die Frauen und Männer keine Analphabeten wie an den Höfen der übrigen Welt, hier waren sie mit den Werken der Dichter und mit den Grundgesetzen der Mathematik vertraut. Das konnte man an ihr selbst sehen: Geschichte,
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