Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
Mitte beherrscht zu werden: Liudprand von Cremona. Er mied Marocias Blick von Anfang an, als fange er sich sonst die Pest ein.
Marocia wurde ein Stuhl bereitgestellt, der wesentlich kleiner und schmuckloser als die der Geistlichen war. Ein kurzes Grinsen flog über Marocias Gesicht, als sie ihn besah, aber sie protestierte nicht, sondern setzte sich anstandslos. Wenn ihre Gegner meinten, sie mittels solcher billigen Gesten kränken zu können, irrten sie sich.
Auf eine knappe Bewegung von Liudprands knöchrigem Zeigefinger hin hielt der Sekretär feierlich ein Dokument hoch und las daraus vor: »Marocia, Senatrix von Rom, du bist vor dem Gericht des Kaisers folgender Verbrechen angeklagt. Crimen primum: Du wirst beschuldigt, einen von der Kurie abgesetzten und verurteilten Pontifex seiner gerechten Strafe durch die Allmacht des Kaisers entzogen zu haben.«
Diese Anklage hatte sie erwartet. Sie konnte Liudprand von Cremona keinen Vorwurf machen, sie zu erheben, denn jedes Wort davon entsprach der Wahrheit. Ja, sie hatte so gehandelt und würde es jederzeit wieder tun.
»Crimen secundum«, fuhr der Sekretär mit dem nächsten Anklagepunkt fort. »Du wirst beschuldigt, gegen das Gesetz Gottes und der Kirche aus eigener Willkür einen Pontifex abgesetzt und ermordet zu haben. Crimen tertium: Du wirst beschuldigt, einen Pontifex mittels verdorbener und verwerflicher Praktiken gefügig gemacht zu haben. Crimen quartum: Du wirst beschuldigt, den Sohn aus dieser unheiligen Verbindung für deine niedrigen Zwecke benutzt und später . . .«
»Diese Anklagen sind falsch!«, rief Marocia. Sie erhob sich ruckartig und fügte hinzu: »Ich erhebe Einspruch gegen die letzten drei Anklagepunkte.«
Liudprand von Cremona nickte dem Sekretär fast unmerklich zu. Dann rief dieser: »Marocia, Senatrix von Rom, du wirst aufgefordert, dich zu setzen und, ohne eigenes Wort zu ergreifen, den Anklagen . . .«
»Ach, sei ruhig!«, rief sie dem verschreckten Sekretär zu und trat anschließend dicht vor den Sessel, auf dem Liudprand saß und überallhin schaute, nur nicht auf die Frau vor ihm. »Mit Ausnahme des ersten Anklagepunkts verdreht und verzerrt Ihr die Dinge nach eigenem Belieben. Nennt Ihr das Recht?«
Wieder nickte Liudprand von Cremona, diesmal in die andere Richtung. Der Abt von Farfa erhob sich, hüstelte zweimal in die Faust und meinte dann: »Aber ist es nicht wahr, dass Ihr in den Lateran gegangen seid und den Heiligen Vater zur Unzucht getrieben habt?«
»Weil er es wollte«, fuhr sie den Geistlichen an.
»Weil er Euch verfallen war.«
»Das ist dasselbe.«
»Das ist es nicht«, ging Liudprand von Cremona dazwischen und pochte mit dem Stock auf den marmornen Boden. Sein Blick zuckte unruhig über die Versammelten, die der Kontroverse gebannt folgten. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen, denn er richtete seine Augen auf Suidger von Selz. Der Verhandlungsführer der Senatrix schickte sich gerade an, in das Geschehen einzugreifen, als Liudprand – gerade noch rechtzeitig – mit Blick auf den Abt von Farfa sagte: »Aber bitte, es steht der Beschuldigten frei, sich zu dieser Anklage zu äußern.«
Marocia wandte sich um. Sie stützte sich auf die Armlehnen des Stuhls und setzte sich. »Das alles ist so lange her . . .«, flüsterte sie vor sich hin. »Und ich habe noch nie darüber gesprochen.«
Die Stimme des Sekretärs kannte keine Wärme: »Marocia, Senatrix von Rom, äußere dich laut und verständlich vor dem Gericht.«
Marocia blickte auf den silbernen Ring an ihrer linken Hand, und die Erinnerung an die ferne Zeit zeichnete ebenso Freude wie Schmerz auf ihr Gesicht.
9
Anno Domini 906
»Bruder Gratian«, stellte sich der Mönch vor und blickte neugierig, aber auch ein wenig ärgerlich auf die kniende Marocia herab. »Was tut Ihr hier, zu dieser Stunde?«
Bruder Gratian reichte ihr zum Aufstehen die Hand, die sich dicklich und weich anfühlte, wie gefettete Daunen. Mit der anderen Faust umklammerte er eine schwere Altarkerze, die er seltsamerweise nicht dazu benutzte, Marocias Gesicht zu erhellen, sondern sein eigenes. Wie zwei aneinander gedrückte Kissen waren seine speckigen Wangen gewölbt und fielen steil in die winzigen Augenhöhlen ab. Sein Blick wirkte dadurch ungewöhnlich eng, und da er für einen Mann nicht gerade groß war, stand Marocia ihm im wahrsten Sinne Auge in Auge gegenüber. Nun erkannte sie auch, dass er jünger war, als es aufgrund seiner schwammigen Statur zunächst den Eindruck
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