Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
erweckte. Er mochte allenfalls sieben oder acht Jahre älter als sie sein, und seine erstaunlich helle und klare Stimme schien gar einem Jugendlichen zu gehören.
Bruder Gratians Blick suchte die Dunkelheit ab. »Ich habe Worte gehört. Mit wem habt Ihr gesprochen? Wo ist die andere Person?«
Marocia fand es merkwürdig, dass ein Mönch, der einen Besucher vor dem Altar sprechen hörte, nicht auf das Naheliegendste kam. »Ich habe gebetet, Vater. Oder besser: Ich habe mir etwas geschworen – vor Gott natürlich.«
Bruder Gratian zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Dann seid Ihr allein, ja?«
Sie nickte. »Sehr allein sogar.«
Bruder Gratian wischte sich die Stirn und blickte kurz über die Schulter zu einem Winkel des Kirchenschiffs, der ganz im Dunkeln lag. »Gut, dann geht jetzt«, forderte er und machte eine Bewegung, als verscheuche er eine lästige Fliege.
Die Ungeduld des Mönchs amüsierte Marocia, ja, sie fühlte sich durch sie sogar angenehm aufgestachelt. Nach all den finsteren Erfahrungen des heutigen Tages kam ihr Bruder Gratian geradezu erfrischend vor. »Seid Ihr hier zur Aufsicht eingeteilt, Vater?«
»Nein . . .Wieso? Oder doch, ja. Deswegen bin ich ja hier.«
»Aha«, kommentierte Marocia gedehnt. »Wenn das so ist, möchte ich, dass Ihr mich zur Heiligkeit bringt. Ich bin Marocia, und der Papst erwartet mich bereits – wie Ihr und die übrige Bruderschaft vermutlich längst wisst.«
Bruder Gratian formte ihren Namen tonlos auf den Lippen nach. Er warf erneut einen Blick in den entfernten finsteren Winkel der Laterankirche. »Wir hatten nicht erwartet, dass Ihr durch die Kirche in den Lateran gelangen wollt. Also dann«, schnaufte er. Einen Moment lang sah es so aus, als würden seine Arme und Beine nicht zum gleichen Körper gehören, denn während sein rechter Arm eine höfliche Geste zu einer Seitentür machte, blieb seine linke Seite steif, als könne nichts sie dazu bringen, die Kirche zu verlassen. Schließlich schlurfte er aber doch vor Marocia her, und bevor sie die Kirche durch die kleine Spitzbogentür verließ, spähte sie noch rasch in den Winkel, der Gratian zu fesseln schien. Dort erkannte sie, trotz der Dunkelheit, die Kontur eines Kopfes.
Bruder Gratian führte Marocia mit einer Fackel in der Hand durch die scheinbar endlosen Korridore und Treppenaufgänge. Obwohl Marocia aufmerksam ihr neues Zuhause musterte, fand sie doch fast nichts, das sie interessiert oder gar beeindruckt hätte. Die Gänge waren breit, aber meist kahl. Alle zwanzig Schritte waren Fackeln an den Mauerwänden angebracht, doch die meisten von ihnen waren nicht entzündet, und wo doch eine brannte, beleuchtete sie nur den nackten Ziegelstein, in den sie gesteckt war. Auch die erste Halle, durch die sie kam, barg keine kunstvollen Verzierungen, sondern bloß eine große Leere, die von schmucklosen, vierkantigen Säulen umrahmt wurde.
Marocia blickte sich traurig um. Das Innere des Lateranpalastes entsprach nicht dem Bild, das sie sich aufgrund der Geschichte des Bauwerks gemacht hatte. Immerhin war der Palast im Jahre des Herrn 315 für eine römische Kaiserin erbaut und kurz darauf vom ersten christlichen Kaiser Konstantin dem Bischof von Rom als Residenz geschenkt worden. Die Beschreibungen in Büchern sprachen von Prunk und Würde, aber alles, was sie sah, war eine Mischung zwischen Mietskaserne, Festung und Bettelkloster, und statt den Atem einer erhabenen Geschichte sog sie nur eine kalte und modrige Luft ein.
Als sie eine Weile gegangen waren, kamen sie in den prunkvollen Teil des Gebäudes. Hier brannten die Fackeln in fünf Schritten Abstand und erhellten die mit Mosaiken belegten Wände. Steinerne Heiligenstatuen säumten den breiten Gang, hohe und breite Türen ließen auf noch höhere und breitere Säle schließen.
Vor einem doppeltürigen Portal blieb Gratian stehen. Zum ersten Mal, seit sie die Laterankirche verlassen hatten, sah er Marocia wieder mit seinen Knopfaugen an. Er zögerte einen Augenblick, so als prüfe er alle Möglichkeiten eines Abschiedswortes, dann sagte er süffisant: »Viel Vergnügen«, und schlurfte davon.
Ein Meer von Kerzen empfing Marocia, als sie das riesige
triclinium
, die Wohnhalle, betrat. Die Wände waren rundum mit dunkelrotem Stoff verkleidet, auf dem Boden lagen dicke Teppiche mit fremdartigen Mustern aus. Überall prunkten gemütliche Sessel, römische Liegebänke und niedrige Ebenholztische. Trotz des Winters waren die Schalen angefüllt mit
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