Die Herrin der Pyramiden
befürchtet, dass er das sagen würde. Ängstlich folgte ich ihm zum Ende der alten Grabkammer, dem neuen Aufstieg zur dritten Kammer. Ich blickte nach oben zum neuen Grabschacht, den ich erst vor wenigen Monden durch die Steinlagen hatte schlagen lassen.
»Wie kommen wir da hinauf?«, fragte ich meinen Vater.
»Ich will verhindern, dass einer der Arbeiter die neuen Schäden sehen kann. Oben im Korridor liegt eine Strickleiter, die mit dieser Vorrichtung herabgelassen und auch wieder hochgezogen werden kann.« Kamose deutete auf ein Seil, das unscheinbar in einer dunklen Ecke der Kammer hing.
Er zog daran und eine aus Seilen geknüpfte Leiter fiel zu uns herab. Der Aufstieg war mühsam. Oben krochen wir den steil aufsteigenden Korridor zur neuen Grabkammer entlang. Unter dem riesigen Gewölbe richtete ich mich auf.
»Hier drüben, Nefrit!« Mein Vater deutete auf einen Riss von der Breite eines Fingers, der nicht, wie der Spalt in der unteren Grabkammer, senkrecht verlief, sondern den Stein horizontal zerteilte, um dann in einer senkrechten Verwerfung von der Breite eines Fingers zu enden. »Ungeheure Kräfte müssen auf die Steine wirken, Nefrit. Und nicht nur senkrechte Kräfte.«
»Dabei lastet noch nicht einmal das volle Gewicht der Pyramide auf diesen Steinen. Was wird passieren, wenn die Pyramide höher ist?«
»Dann werden seitlich die ersten Steine weggesprengt. Wir bauen viel zu steil!«
»Das wussten wir von Anfang an!«, warf ich ein. »Wann ist dieser Riss entstanden?«
»Am Vormittag nach deiner Abreise gab es ein neues Beben unterhalb der Pyramide. Teile des Plateaus unterhalb des Fundamentes scheinen weggesackt zu sein.«
»Wie tief geht dieser Riss?«
»Ich hatte in den vergangenen Nächten keine Möglichkeit, die Außenseite der Pyramide zu untersuchen. Ich wäre beobachtet worden.«
»Nachts ist es trotz Öllampen ohnehin zu dunkel, um einen Riss dieser Breite zu erkennen. Wir werden morgen danach suchen.«
»Du willst auf der Pyramide herumklettern und nach einem Riss suchen?«, fragte Kamose bestürzt.
Genau das taten mein Vater und ich am nächsten Morgen. Unter dem Vorwand einer genauen Winkelmessung auf halber Höhe zur bereits errichteten Plattform stiegen wir die hohen Steinquader hinauf, manchmal auf allen vieren. Die Gehilfen des Bauleiters hatten uns angesehen, als wären wir von unserem Ka verlassen, denn sie wussten wie wir, dass eine Winkelmessung von der Pyramidenseite aus nicht durchführbar war. Trotz ihrer zweifelnden Blicke hatte mein Vater den Winkelmesser und das Lot in eine Tasche gepackt und war mit mir zur Pyramidenbasis aufgebrochen.
»In welche Richtung würde der Riss verlaufen, wenn er sich wirklich durch die gesamte Pyramide zieht?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Offenbar herrschen in der Pyramide andere Kräfte, als wir bisher berechnet hatten. Wenn das Gewölbe der neuen Kammer den Druck nach unten abfängt wie geplant, dann werden wir keinen Riss finden, es sei denn unterhalb des Fundamentes. Wenn allerdings …«
»Was ist das hier?« Mein Vater winkte mich zu sich.
»Ein geborstener Steinquader. Das muss nichts bedeuten. Der Block kann beim Setzen der Pyramide geborsten sein.«
»Wir sind hier, um einen Riss zu finden. Das hier ist ein Riss!«
»Es muss sich nicht um die Fortsetzung des Risses aus der Grabkammer handeln!« Meine Worte waren ein Versuch, mich selbst zu beruhigen.
Mein Vater saß neben mir und barg sein Gesicht in den Händen. Er war ähnlich verzweifelt wie ich selbst. »Das wissen wir erst, wenn der Quader hinter diesem auch geborsten ist.«
»Wie willst du das feststellen, Vater? Du kannst ihn nicht einfach herausziehen.«
»Ich kann und ich werde. Wir können nicht weiterbauen, bevor nicht das Ausmaß der Schäden erforscht ist.«
»Wie willst du diese Maßnahme deinen Gehilfen erklären?«
»Gar nicht. Ich steige hinauf auf die Plattform und hole zwei Gruppen von Schleppern, die diesen Stein entfernen sollen. Der Stein ist geborsten und muss durch einen heilen Quader ersetzt werden. Du wartest hier, bis ich mit den Männern zurückkehre.«
Kurz darauf kam mein Vater mit zwanzig Arbeitern zurück, die mit Brechstangen bewaffnet waren. Ein Vorarbeiter untersuchte den zu entfernenden Steinquader und markierte mit roter Farbe die Stellen, an denen die Werkzeuge zum Herausbrechen angesetzt werden sollten. Zunächst wurde der Quader mit einem schweren Steinhammer bearbeitet, damit er an weiteren
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