Die Herrin der Rosen - Historischer Roman
war nicht bei ihm gewesen, und Thomas war gestorben. Ich fürchtete, die Worte seines Bruders würden John bis ans Ende seiner Tage verfolgen.
Schließlich zwang ich mich aus meiner schrecklichen Lethargie und ging, um nach Countess Alice zu sehen. Gedankenversunken machte ich mich auf den Weg zu ihr, als ich leise Stimmen hörte. Ich blieb stehen, drehte mich um und folgte dem Geräusch auf Zehenspitzen zurück zu einer kleinen Kammer hinter mir. Sie hockten alle beisammen auf dem Boden nahe einem Kohlenbecken: Warwicks kleine Anne und Bella, nun sieben und neun Jahre alt, und unsere Zwillinge Annie und Izzie, die fast drei waren. Die Amme war nicht zu entdecken, auch wenn ich gewiss war, dass sie die Kinder nicht länger allein lassen würde. Sie redeten so leise, dass ich mich anstrengen musste, sie zu verstehen.
»Sie sind im Paradies«, sagte Bella.
»Was ist das, Paradies?«, fragte unsere kleine Annie.
Ich drückte mich dicht an die Steinmauer. Tränen stiegen mir in die Augen, und ein scheußliches Gewicht beschwerte mein Herz.
»Das ist im Himmel«, antwortete Warwicks Anne mit einem Anflug von Stolz, weil sie die Antwort kannte.
»Was machen die da?«, fragte Izzie neugierig.
Hierüber hatte Bella offenbar nie nachgedacht, denn sie musste einige Zeit überlegen, ehe sie sagte: »Die sitzen da nur.«
»Auf Stühlen?«, fragte unsere Annie.
Bella runzelte grübelnd die Stirn, wie ich bei einem raschen Blick ins Zimmer sah. »Ich glaube schon. Vielleicht auch auf einem Thron.«
»Kommt Onkel Tom wieder und ist lustig?«, wollte Warwicks Anne wissen. Sie liebte Thomas besonders, und im Geiste sah ich ihn vor mir, wie er sie im sonnendurchfluteten Zimmer durch die Luft wirbelte und sie vor Vergnügen kreischte.
Leichte Schritte eilten über den Flur herbei. Die Amme kann auf mich zu, murmelte unglücklich etwas von »Abort«, doch ich bedeutete ihr, still zu sein, und legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm.
»Wir haben die Kinder ganz vergessen«, flüsterte ich, wobei ich meine Tränen wegblinzelte. Dann schluckte ich meinen Kummer herunter, rang mir ein Lächeln ab und trat mit der Amme zusammen ins Zimmer.
»Onkel Thomas wartet im Himmel auf dich, kleine Anne«, sagte ich und nahm das Kind in die Arme. »Eines Tages wird er dich wieder zum Lachen bringen. Wenn du selbst ins Paradies kommst, wird er so lustig mit dir sein, wie du dir nur wünschst. Dann werdet ihr immerzu fröhlich und heiter sein, versprochen.«
Die Königin marschierte nach Süden. Ihre Truppen plünderten, verwüsteten und mordeten, wo immer sie hinkamen. Wir hörten von Nordmännern, die Monstranzen aufbrachen und das heilige Sakrament herausrissen, Bücher, Kelche, Messgewänder und Kirchenschmuck jeder Art entwendeten und Priester ermordeten, die es wagten aufzubegehren. Denn Marguerite hatte ihren Soldaten versprochen, dass ihnen gehörte, was sie südlich des Flusses Trent erbeuten konnten.
Ängstliche, verzweifelte Menschen flohen aus ihren Heimen und suchten Zuflucht in London. Es war furchtbar, ihr Elend mitanzusehen. Sie drängten sich in den überquellenden Kirchen und auf den winterlichen Straßen, wo sie ihre Babys in den Armen hielten, um Almosen bettelten und den Verlust von Heim und Herd jedem Londoner klagten, der sie anhörte. Wo ich auch hinging, war ich umgeben von Tränen und Jammer. Es war, als weinten sogar die Stadtmauern vor Kummer. Ich fühlte mit den Armen, von denen viele ihre Söhne verloren hatten, weil sie gezwungen worden waren, für Lancaster zu kämpfen. Wie wir trauerten sie um ihre Lieben, nur war es um sie noch schlimmer bestellt, denn sie hatten außer ihren Ernährern auch ihr Heim verloren und mussten als Bettler leben. Ihr Leid quälte mich Tag und Nacht, bis mir einfiel, wie man ihnen helfen konnte.
Nan und ich sprachen mit den Priestern von St. Mary’s und arrangierten, dass Essen an die Notleidenden in den Straßen von Dowgate verteilt wurde. Unsere Bemühungen waren so erfolgreich, dass wir uns auch an andere Priester in Kirchen überall in der Stadt wandten. Gleichzeitig baten wir die Londoner Bürger, Strohballen zu spenden, und sie brachten sie karrenweise herbei. Die Ballen lieferten wir an die Kirchen und baten als Nächstes, dass man grobes Brot aus Hafer und Roggen spenden möge. Wieder kamen die Leute zu Fuß, zu Ross oder mit Karren, um uns ihre Gaben zu bringen. Da wir wenig Gold besaßen, bestellten wir Leichtbier in allen Londoner Schank- und Gasthäusern und
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