Die Herrin der Rosen - Historischer Roman
des großen Zeltes war eine Plane beiseitegezogen worden und bot freien Blick über Felder im rosigen Abendlicht. Als ich in die Richtung sah, setzte eine allgemeine Unruhe ein, denn alle Männer erhoben sich, um ihren Kommandeur zu empfangen. John kam mit Sir John Conyers und seinen Rittern herein. Rasch zog ich den Vorhang zu und schöpfte Atem. Dann sah ich wieder hin. John machte die Runde, begrüßte einen Mann hier, einen anderen dort, blieb stehen, um jemandem die Hand auf die Schulter zu legen, und bahnte sich so seinen Weg zur großen Tafel. Diese Seite an ihm hatte ich noch nie zuvor gesehen. Unter den Männern strahlte er eine Gelassenheit und Kameradschaft aus, wie sie nur zwischen jenen existierte, die gemeinsam gekämpft und Gefahren bezwungen hatten, die einander ihr Leben anvertrauten und sich ein ums andere Mal gegenseitige Treue bewiesen. Hier war John in seiner eigenen Welt, von der ich niemals ein Teil würde sein können. Eine seltsame Traurigkeit überkam mich, und ich wich zurück.
Als alle saßen und der erste Gang serviert war, gab der Zigeuner den Musikanten ein Zeichen, und die heiteren Noten der ersten Melodie erklangen und wetteiferten mit dem Lärm der redenden Männer. Ich nickte den vier Tänzerinnen zu und hielt ihnen den Vorhang auf. Mit wehenden leuchtenden Röcken wirbelten sie ins Hauptzelt; sie waren in ihren Kostümen wunderschön anzusehen. Ihre Bäuche waren unverhüllt, ihre Hüften schwangen, ihr offenes schwarzes Haar flog, und durch die Schlitze in ihren Röcken waren die nackten Beine zu sehen. Die Männer johlten und pfiffen; die Mädchen lächelten und hauchten ihnen Luftküsse zu. Sie genossen die bewundernden Rufe der Soldaten, von denen einer aufsprang, die Hand aufs Herz legte und rief:
»Seid mir gnädig und heiratet mich oder tötet mich jetzt!«
Ich lugte hinter dem Vorhang hervor zu John. Er war in ein Gespräch mit Conyers vertieft und beachtete die Tänzerinnen gar nicht. Dass er offenbar in Gedanken woanders war, beunruhigte mich. Was, wenn er mich nicht bemerkt? Oder wenn er das Zelt verlässt, bevor ich tanze?
Tosender Applaus riss mich aus meiner Grübelei. Der erste Tanz war vorbei. Nun bewegten sich die Mädchen zu den schnelleren und wilderen Klängen der nächsten Melodie. John ignorierte sie immer noch, und obgleich er aufsah, als auch dieser Tanz endete, lag ein abwesender Ausdruck in seinen Augen. Stille trat ein. Ich wartete auf das Schlagen der Zimbeln, die meinen Auftritt ankündigten, und vergewisserte mich, dass mein Schleier fest saß. Die Musik wurde langsamer und schwülstiger. Klopfenden Herzens glitt ich hinaus auf den Tanzboden, umgeben von Tänzerinnen, die mich mit blauen und grünen Straußenfedern abschirmten. Ich nahm meine Pose ein: Den Kopf scheu zur Seite gedreht, die Augen gesenkt, hielt ich mit einer Hand den Schleier und streckte einen nackten Fuß mit glitzernden Ringen an den Zehen leicht vor. Die Mädchen nahmen die Federn herunter, und alle Männer hielten hörbar den Atem an. Eine solch vollständig verschleierte Tänzerin sahen sie gewiss zum ersten Mal.
Mit einer Hand hielt ich mir den Schleier vor das Gesicht, mit der anderen bewegte ich den dünnen Stoff vor meinen Hüften hin und her, während ich mit gemessenen Schritten erst zur einen, dann zur anderen Seite ging, das Gesicht von John abgewandt. Die Musikanten beschleunigten ihren Takt, und ich vollführte eine lange, sinnliche Drehung. Ich wirbelte über den Boden, dass der Schleier um mich aufflog, sich an mich schmiegte, hier einen geschmückten Knöchel enthüllte, dort ein wenig Schenkel. Viele der Männer stellten ihre Ale-Krüge ab, weil sie genauer hinsehen wollten; sie hatten ja keine Ahnung, was als Nächstes geschehen würde, und wollten es auf keinen Fall versäumen. Ich drehte mich auf der freien Fläche, näherte mich mal einem der Tische, streifte eine Schulter oder Wange mit dem Schleier oder sah jemandem direkt in die Augen. Derweil behielt ich den Schleier vor meinem Gesicht. Schließlich wagte ich es, in Johns Richtung zu schauen. Er achtete nach wie vor nicht auf den Tanz, sondern hatte den Stuhl nach hinten gerückt, um mit seinem Freund Marmaduke Constable zu reden, der hinter Conyers saß. Mich erinnerte es an das Bankett auf Lord Cromwells Burg, und mir wurde das Herz schwer.
Gütiger Himmel, erkennt John mich denn nicht?, dachte ich. Rechts und links von ihm saßen Lord Clinton und Conyers, die sich zurückgelehnt hatten und mir ihre
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