Die Herrin des Labyrints
aber sehr losgelassenen Zustand hinein, den ich mit dem letzten Trommelschlag beenden konnte.
»Na, funktioniert doch. Bis morgen dann!«
»Halima, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein nervendes Ekel bist?«
»Bis jetzt noch nicht. Aber ich arbeite daran.« Sie lächelte mir zu und strich mir leicht über die Schulter. »Es wird nur noch schlimmer, glaub mir.«
Ich glaubte ihr. Vor allem, als ich zu Hause meine Füße betrachtete. Ich hatte barfuß getanzt, wie üblicherweise immer im Training, aber die vielen Stunden hintereinander hatten ihren Tribut gefordert. Ich hatte dicke Blutblasen unter den Ballen, die ich erst einmal versorgen musste. Die kleine Statue von Kali Ma sah mir dabei zu und schien sich über das geleistete Blutopfer zu freuen. Das Gehen war zwar an diesem Abend nicht sehr angenehm, aber nachts träumte ich wieder von einem Labyrinth.
KAPITEL 55
Labyrinth-Tanz
Ich wusste, dass ich schlief, und ich wusste, dass ich träumte, und trotzdem war ich wach und nahm die Veränderung von mir und meiner Umgebung wahr. Es rauschte ein Meer, mit einem Donnern schlugen die Wellen gegen die rundgewaschenen Felsen derKüste. Der Himmel war verhangen, tief zogen die Wolken vom Horizont auf. Es war ein düsterer Tag ohne Hoffnung auf einen wärmenden Sonnenstrahl. Ein scharfer Wind wehte vom Wasser her, salzig, mit einem Geruch von Algen und Tang. Er zerrte an meinen Haaren, die offen über meinen Rücken fielen. Ich hatte sie gelöst, aus einem ganz bestimmten Grund. Ich hatte auch das lange weiße Gewand angezogen, aus einem ganz bestimmten Grund, und es mit einem Lederband gegürtet, auf eine ganz bestimmte Weise. Und nun musste ich etwas tun, das mit diesen Steinen vor mir auf der Wiese im Zusammenhang stand. Barfuß stand ich auf dem rauen Gras, spitze Steinchen und scharfkantige Muschelstückchen drückten sich in meine Sohlen. Die Felsstücke, kopfgroß, grau-weiß und zum Teil von gelben Flechten überzogen, lagen in einem wirren Durcheinander vor mir. Ich wusste, dass ich das Muster erkennen und einen Weg dazwischen suchen musste, der aus ihrer Anordnung einen Sinn ergab. Man erwartete das von mir. Einzig ich alleine konnte diesen Sinn erkennen. Darum machte ich mich daran, das Steinfeld zu umrunden. Als ich den Kreis beinahe vollendet hatte, fand ich einen Eingang. Ich folgte dem Pfad, der sich dazwischen auftat, und ich wanderte in Windungen und Schleifen viele Male um eine Mitte, die sich oft verlockend näherte, dann wieder weit entfernt lag. Ich wanderte mit wunden Füßen und kalten Gliedern, wurde müde und hoffnungslos, aber es gab keine Möglichkeit zur Umkehr. Durchdringender Nieselregen nässte meine Haare und meine Haut, der eisige Wind ließ mich schaudern und schlug mir die nassen Falten des Gewandes um die Beine. Noch eine Runde, noch eine Windung, die weiteste, die ich bisher gewandert war – und dann plötzlich stand ich in der Mitte der Steinlegung, dem Zentrum eines riesigen Labyrinths. Fern am Horizont riss die graue Wolkendecke auf, und ein goldener Sonnenstrahl fiel glitzernd über das graue Meer. Ich wusste, dass ich gefunden hatte, was mir zu suchen aufgegeben war, und wurde wach.
Meine Füße brannten leicht, die Decke war vom Bett gerutscht, ein kühler Nachtwind bauschte die Gardinen, und mir war kalt. So weit stimmten Realität und Traum überein. Aber dann versuchteich mich zu erinnern, was ich nun gesucht und gefunden hatte, aber das wollte sich mir nicht mehr erschließen. Nur eines wusste ich jetzt – diejenige, die den Tanz anführte, tanzte die Figur eines Labyrinthes. Sie tat es auf eine seltsam rituelle Art mit einem ganz bestimmten Auftrag. Ich war diese Tänzerin, sicher, aber wer war ich in dieser Rolle? Gab es diese Steinlabyrinthe wirklich? Und in welchem Zusammenhang standen sie mit den beiden anderen Tänzen, die ich geträumt hatte? Dem ersten, in dem die Tänzerkette um einander geschritten war, dem zweiten, in dem es die zwei Frauen waren, die sich in strenger Symmetrie umkreist hatten? Folgten auch sie dem labyrinthischen Muster?
Ich nahm die Münze in die Hand und grübelte, bis ich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Eine Lösung fand ich nicht, aber am nächsten Morgen packte ich nicht nur mein Kostüm, sondern auch Ballettschläppchen ein und war Halima dankbar, dass sie sich vor allem dem Ausdruck bei Hand- und Armbewegungen widmete. So eine ganz böse Teufelin war sie doch nicht.
KAPITEL 56
Alte Geheimnisse
Waltraud Seebruk
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